Präsidentschaftswahl in Tunesien: „Der Glaube an eine faire Wahl ist komplett verschwunden“

Zum dritten Mal seit dem Arabischen Frühling wird in Tunesien ein neuer Präsident gewählt. Doch mehr als ein Jahrzehnt nach der demokratischen Wende in dem nordafrikanischen Land nehmen die Repressionen immens zu. Prominente Oppositionelle sitzen im Gefängnis, viele andere haben das Land verlassen. Wie frei ist die Präsidentschaftswahl in Tunesien? Kann Präsident Kais Saied sein autokratisches Regime festigen? Die wichtigsten Fragen und Antworten

Wer steht in Tunesien zur Wahl?

Zur Wahl zugelassen sind nur drei Kandidaten: Neben Amtsinhaber Kais Saied stehen der linksnationalistische Ex-Abgeordnete Zouhair Maghzaoui und der liberale Unternehmer Ayachi Zammel auf dem Wahlzettel. Maghzaoui, inzwischen Vorsitzender der panarabistischen Echaab-Partei, stammt allerdings selbst aus dem Saied-Lager. Und Zammel sitzt im Gefängnis: Er wurde bereits vor Beginn des Wahlkampfs in zwei Verfahren wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Unterschriftensammlung für seine Kandidatur zu Haftstrafen von jeweils 12 Jahren sowie 20 Monaten verurteilt. 14 weitere Bewerber ließ die Wahlbehörde nicht zu.

Mit einem Sieg Saieds wird fest gerechnet. Die prominentesten Oppositionspolitiker, die eine Kandidatur angestrebt hatten, wurden zu Haftstrafen verurteilt und auf Lebenszeit als Kandidaten bei Wahlen ausgeschlossen, darunter der ehemalige Gesundheitsminister Abdellatif El Mekki von der islamistischen Ennahda-Partei und der Medienunternehmer Nizar Chaari.

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Wer ist Kais Saied?

Der 66-Jährige ist seit 2019 Präsident Tunesiens. Wahlkampf machte Saied damals mit dem Versprechen einer rigorosen Sicherheitspolitik und der Zusage, entschlossen gegen Korruption vorzugehen. Saied ist Verfechter der Todesstrafe und gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter in Bereichen wie dem Erbschaftsrecht. Eine Rolle für seinen Wahlsieg spielte 2019 auch Saieds Inszenierung als volksnaher, bescheidener Politiker ohne ausschweifenden Lebensstil und seine rhetorischen Angriffe gegen Eliten. Stimmen erhielt er zudem von marginalisierten Bevölkerungsschichten, die enttäuscht über die wenigen wirtschafts- und sozialpolitischen Fortschritte nach dem Arabischen Frühling waren.

Im Laufe seiner Amtszeit gelang es Saied, fast alle Macht im Staat bei sich zu bündeln. Die entscheidende Rolle spielte dabei die institutionelle Krise im Jahr 2021: Damals weigerte sich Saied zunächst, einer Kabinettsumbildung unter dem damaligen Regierungschef Hichem Mechichi zuzustimmen, kurz darauf verhinderte er die Ratifizierung eines Gesetzentwurfs zur Einrichtung eines Verfassungsgerichts. Die folgenden Ereignisse beschreiben Experten als „Verfassungsputsch“. Saied entmachtete das Parlament, indem er es zunächst suspendierte und dann auflöste. Im Februar 2022 ließ er per Referendum eine neue, autoritär ausgerichtete Präsidialverfassung verabschieden. Oppositionelle wie der frühere Parlamentschef Rached al-Ghannouchi warfen Saied einen „Staatsstreich gegen die Revolution“ vor.

Seit der Verfassungskrise haben die Repressionen unter Saied zugenommen. Zentrales Interesse des Präsidenten sei „die dauerhafte Zerschlagung der bestehenden Machtzentren“, schreibt das Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (Giga). Begleitet werde die Autokratisierung Tunesiens von populistischen und rassistischen Narrativen. Im Februar 2023 hatten Anschuldigungen Saieds gegen Schwarze Migrantinnen und Migranten zu einer rassistischen Verfolgungswelle in Tunesien geführt.

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Ist die Wahl in Tunesien frei?

Opposition und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International bezeichnen die bevorstehende Wahl als weder frei noch fair. Ernsthafter Konkurrenten hatte sich Saied schon vor Beginn des Wahlkampfs entledigt, unter anderem durch Diffamierungskampagnen und die Einführung willkürlicher Hürden für die Zulassung von Präsidentschaftskandidaten. Die Mitglieder der für die Zulassung zuständigen Wahlbehörde ernannte Saied selbst.

Wie loyal die Wahlbehörde gegenüber dem Präsidenten ist, zeigten die vergangenen Wochen: Ein Gerichtsurteil, das die Zulassung von drei aus formalen Gründen ausgeschlossenen Kandidaten angeordnet hatte, ignorierte die Behörde. Neun Tage vor der Wahl entzog dann das Parlament den Gerichten die Zuständigkeit für die Wahlbehörde. Saied nahestehende Abgeordnete behaupteten, die Richter, die zugunsten der drei ausgeschlossenen Kandidaten entschieden hatten, seien Marionetten, die im Auftrag ausländischer Akteure handelten – eine Rhetorik, wie auch der Präsident selbst sie immer wieder bedient.

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Hat Tunesien noch eine funktionsfähige Opposition?

„Es gibt eine Opposition in Tunesien, aber die wichtigen
Figuren sitzen im Gefängnis“, sagt die Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die politischen Parteien seien diskreditiert und „durch Repressionen lahmgelegt“. Hinzu komme die Spaltung der Opposition: Das betreffe auch die Gewerkschaft UGTT, die unter anderen Umständen eine entscheidende Akteurin sein könnte, wie Werenfels sagt. 

Die Opposition sei schon in der Frage gespalten, ob sie zur Beteiligung an der Wahl oder zum Boykott aufrufen solle. „Mein Eindruck dabei ist, dass die Boykottfraktion inzwischen
mehr Zuspruch hat“, sagt Werenfels. „Der Glaube an eine faire Wahl ist komplett verschwunden.“

Im Vorfeld der Wahl gingen unter anderem in der Hauptstadt Tunis Tausende Menschen auf die Straße. Eine große Mobilisierung wie vor dem Arabischen Frühling gelingt bislang aber nicht.

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Drohen jetzt noch mehr Repressionen?

Das Geburtsland des Arabischen Frühlings war das einzige arabische Land, das sich nach der Revolution zur Demokratie entwickelte. Doch seit Saieds Verfassungsputsch ist die Gewaltenteilung weitgehend ausgehebelt, die Meinungsfreiheit durch Repressionen drastisch eingeschränkt. „Noch ist Tunesien keine konsolidierte Autokratie“, sagt die SWP-Expertin Werenfels. „Aber die Praktiken
des Präsidenten sind autokratisch, und wenn er die Wahl gewinnt – wovon man
ausgehen kann – wird sein autoritäres Regime konsolidiert.“        

Das System hält Werenfels für volatil – auch „weil Saied bisher nicht
gezeigt hat, dass er liefern kann“. Der Präsident habe auch keine starken Institutionen
aufgebaut. „Alles in seinem Regime ist um seine Person herum gebaut.“ Derzeit habe Saied die Unterstützung des Sicherheitsapparats und jene des schwachen Parlaments. „Sollte es ihm gelingen, auch die Justiz komplett unter seine Kontrolle zu
bringen, dann kann er seine autoritäre Macht wirklich weiter ausbauen.“ Zu befürchten sei, dass in Zukunft „noch viel mehr Richter
und Juristen, die sich ihm entgegenstellen, verhaftet werden“.

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Welche Bedeutung hat die Wahl in Tunesien für Europa?

Für die EU sind die Beziehungen zu Tunesien und den anderen Maghreb-Staaten in einer Reihe von Politikfeldern zentral, darunter in der Energie- und Klimapolitik und bei der Migration. „Wenn man zynisch sein wollte, könnte man sagen, dass Saieds Sieg für die Europäer die vielleicht angenehmste Variante wäre, weil sie am wenigsten Unbekannte mit sich bringt“, sagt Werenfels. „Saied hat gezeigt, dass er rhetorisch komplett antieuropäisch und verschwörungstheoretisch gegen Frankreich und andere externe Akteure operiert, zugleich dann aber doch transaktional agiert.“ 

Deutlich geworden sei dies beim Migrationsabkommen, das die EU und Tunesien im Sommer 2023 geschlossen hatten. Ziel der Vereinbarung ist – aus Sicht der Europäer – die Eindämmung der Migration aus Afrika. Tunesien gilt inzwischen als wichtigstes Transitland für afrikanische Migranten, die sich auf den Weg nach Europa machen. 

Aus Sicht von Werenfels stärkt das Abkommen Saieds Verhandlungsposition: „Saied braucht Geld. Aber er weiß: Die großen Summen der Europäer kämen nur mit einem großen Deal mit dem Internationalen Währungsfonds.“ Der IWF knüpft die Vergabe von Krediten an Tunesien an Wirtschaftsreformen. Die EU hat Tunesien 900 Millionen US-Dollar (rund 814 Millionen Euro) zugesagt für den Fall, dass Saied ein vom IWF vorgeschlagenes Kreditprogramm über 1,5 Milliarden US-Dollar akzeptiert. Doch die dafür notwendigen Reformen sind bisher nicht umgesetzt. „Das Migrationsabkommen führt jetzt dazu, dass er immer wieder hier und dort Geld loseisen kann“, sagt Werenfels. „Diesen Hebel wird er auch weiter bedienen.“ Umgekehrt schränke der Fokus auf das Migrationsthema die Handlungsspielräume der Europäer massiv ein, sagt Werenfels. „Würden die Europäer das Thema Migration nicht aus innenpolitischen Gründen so hoch hängen, hätten sie stärkere wirtschaftliche und finanzielle Hebel, um Reformen in Tunesien zu erreichen.“       

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Zum dritten Mal seit dem Arabischen Frühling wird in Tunesien ein neuer Präsident gewählt. Doch mehr als ein Jahrzehnt nach der demokratischen Wende in dem nordafrikanischen Land nehmen die Repressionen immens zu. Prominente Oppositionelle sitzen im Gefängnis, viele andere haben das Land verlassen. Wie frei ist die Präsidentschaftswahl in Tunesien? Kann Präsident Kais Saied sein autokratisches Regime festigen? Die wichtigsten Fragen und Antworten

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