Es ist ein Aufbäumen gegen gesellschaftlichen Wandel. Die Evangelikalen erklären die Nation, die Religion und Familie zum Maß der Dinge. Sie befürworten eine soziale Hierarchie mit dem protestantischen weißen Mann ganz oben
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Konservative, weiße und protestantische Christen, oft verkürzt als „Evangelikale“, „christliche Rechte“ oder auch „Fundamentalisten“ bezeichnet, sind Donald Trumps verlässlichster Anhang. Die Evangelikalen wählten ihn 2020 zu rund 80 Prozent. Vor gut vier Jahrzehnten hatte sich diese Klientel schon einmal politisch eindeutig zu Wort gemeldet. Der Republikaner Ronald Reagan konnte bei seinem Wahlsieg am 4. November 1980 von organisierten Evangelikalen profitieren. Zuvor hatte viele von ihnen Politik als weltlich und sündhaft gemieden. Pastoren seien nicht berufen, Politiker zu sein, warnte Anfang der 1960er-Jahre der Baptistenprediger Jerry Falwell – sie seien die „Gewinner von Seelen“.
Als „evangelikal“ gilt ein Protestant, der die Bibel (mehr oder weniger) wörtlich nimmt, ein individuelles Erweckungserlebnis („born again“) hinter sich hat, eine „persönliche Beziehung“ zu seinem Erlöser Jesus Christus pflegt und sich berufen fühlt, andere Menschen zu bekehren. Ende der 1970er-Jahre hat der dynamische Jerry Falwell, Pastor im Städtchen Lynchburg (Virginia) und Star der Fernsehsendung Old-Time Gospel Hour (Traditionelle Evangeliumsstunde), eine neue Wahrheit entdeckt. Sie lautete, Christen müssten eben doch politisch aktiv sein und die Nation „zu biblischen Grundlagen“ zurückführen. Falwell schrieb in Listen, America (Höre, Amerika), einen Leitfaden zur Politik und beklagte, Familienwerte würden nicht mehr respektiert, Frauen forderten gesetzlich verbürgte Gleichberechtigung und Homosexuelle nähmen überhand. Zudem müssten die USA stärker aufrüsten gegen eine gottlose Sowjetunion.
Falwells Appell war ein Aufbäumen gegen den gesellschaftlichen Wandel der 1960er-Jahre. Der Trend in den USA wandte sich tatsächlich gegen traditionelle Werte und eine Hierarchie mit dem weißen, protestantischen Mann ganz oben. Selbst Vertreter der Christenheit waren nicht mehr verlässlich konservativ. Pastoren prägten die Bürgerrechtsbewegung, und viele lehnten den Vietnamkrieg (1965 – 1975) ab. Falwell und verwandte Verbände begegneten gesellschaftlicher Veränderung mit organisierter Stärke und ihrer landesweiten kirchlichen Infrastruktur. Sie waren Pioniere bei der Nutzung des Fernsehens und betrieben außerdem Hunderte Hörfunksender. Im April 1980 kamen ein paar hunderttausend Menschen zur „Washington-für-Jesus“-Kundgebung in die US-Hauptstadt. Sie empörten sich über den „Mord an Millionen Babys“ durch Abtreibung, die ein Urteil des Obersten Gerichtes 1973 ermöglicht hatte.
Im August 1980 mobilisierten Laien und Pastoren bei einer Großveranstaltung in einem Stadion im texanischen Dallas. „Nicht zum Wählen zu gehen, ist eine Sünde gegen den Allmächtigen“, verkündete dort Prediger James Robison. Der Republikaner Ronald Reagan sprach, ein Ex-Schauspieler mittlerer Qualität, 1967 bis 1975 Gouverneur von Kalifornien und nun Präsidentschaftskandidat gegen den Demokraten Jimmy Carter. Das religiöse Amerika wache vielleicht gerade noch rechtzeitig auf, so Reagan. Die Vereinigten Staaten erlebten „den zynischen Versuch“, die traditionelle Moral aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. In der Bibel finde man die Antwort auf alle Probleme.
Partei der Gutbetuchten
Das liberale Amerika unterschätzte die Zugkraft der neuen Bewegung und die ihr zugrunde liegenden Ängste. Die Washington Post schrieb herablassend von „Bibelfanatikern“, die nach Dallas gekommen seien. Es war unklar, wer wen mehr benutzte bei der Fusion des konservativen Christentums und der Republikanischen Partei. Reagan stand rechts, war ein eingefleischter Antikommunist, er glaubte an die freie Marktwirtschaft und an die Einzigartigkeit der USA. Doch der Kirchgang galt nicht unbedingt als seine Sache. Und dann war er auch noch geschieden und hatte wieder geheiratet, ein Makel in der Welt des gestrengen Christentums. Doch Reagan kriegte die rhetorische Kurve zu einer angeblich von der Bibel geprägten Politik. Der Politiker und Showman hatte das Potenzial der Evangelikalen erkannt. Sie würden seine freimarktwirtschaftliche Wirtschaftsagenda und weniger Steuern für die Wohlhabenden biblisch untermauern, kurzum: den Republikanern als Partei der Gutbetuchten Wähler verschaffen. Aus Sicht der Evangelikalen war Reagan der Präsidentenanwärter mit den besten Chancen.
Laut New York Times stimmten annähernd zwei Drittel der Evangelikalen Anfang November 1980 für ihn. Dass diese „moralische Mehrheit“ gegen den Präsidenten Jimmy Carter antrat, musste verblüffen. Der Erdnussfarmer, Ex-Marineoffizier und Ex-Gouverneur von Georgia war bekennender Baptist, also selbst Evangelikaler. Carter hatte als erster Staatschef die Evangelikalen zur Normalität in den USA erhoben. Das Magazin Newsweek ernannte Carters Wahljahr 1976 immerhin zum „Jahr der Evangelikalen“.
Carter war bis zu seiner schweren Erkrankung vor mehreren Jahren in seiner Baptistenkirche in Plains (Georgia) als Sonntagsschullehrer tätig und wusste, dass es nicht nur um Moral und Frömmigkeit ging, sondern nicht minder um politische Macht. Das erklärt auch das Adjektiv weiß. Evangelikale in den 1970er-Jahren, das waren fast ausschließlich Weiße.
Vor Reagan stimmten Weiße im Süden überwiegend für die Demokraten, war es doch der republikanische Präsident Abraham Lincoln gewesen, der im Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865 Teile der Südstaaten mit ihrer weit verbreiteten Sklaverei zur Räson gebracht hatte. Noch heute ist die evangelikale Bewegung weiß geprägt. Schwarze protestantische Christen lesen im Evangelium eher eine frohe Botschaft der Freiheit und Solidarität und nicht der individuellen Erlösung. „Evangelikal“ ist heute mehr ein politischer als theologischer Begriff. Dabei hatte die Politisierung der Evangelikalen in den 1970er-Jahren nicht nur etwas mit Empörung über eine verlotterte Moral zu tun. In seinem 2021 erschienenen Buch Bad Faith: Race and the Rise of the Religious Right (Schlechter Glaube: Rasse und der Aufstieg der religiösen Rechten)weist der Historiker Randall Balmer auf einen Anstoß zur Motivation: In den 1950er- und 1960er-Jahren erzwangen Gerichtsurteile und Bürgerrechtsbewegungen integrative staatliche Schulen gegen den Widerstand vieler weißer Eltern. Manche evangelikale Kirchen gründeten Privatschulen für weiße Kinder. 1971 urteilte ein Gericht, dass rassensegregierte Schulen nicht als steuerbefreit anerkannt würden. Eine aus Sicht der Betreiber zum Handeln treibende Hiobsbotschaft. Letztlich haben die Evangelikalen nicht viel von Reagan profitiert. Sie wurden hofiert und fühlten sich wertgeschätzt durch die Ansprachen dieses Präsidenten. Doch in der Republikanischen Partei hatte der Wirtschaftsflügel das Sagen.
Göttliches Zeichen
In den 1970er-Jahren waren 90 Prozent der US-Amerikaner Christen, derzeit sind es noch gut zwei Drittel. Weiße Christen stellen laut einer Erhebung des Public Religion Research Institute noch 42 Prozent der Bevölkerung, weiße Evangelikale nur mehr 14 Prozent, weiße Katholiken zwölf Prozent. Die am schnellsten wachsende Gruppe sind mit 27 Prozent Menschen ohne religiöse Bindung.
Und nun also Donald Trump. Sein Lebenswandel ist weit entfernt von traditionellen Werten. Viele rechte Christen bleiben Trump nach dem Motto treu, Jesus ist mein Heiland, Trump mein Präsident. Gott könne auch Sünder benutzen. Trump bestärke ihr Gefühl, Opfer zu sein. Das von ihm umbesetzte Oberste Gericht hat das Urteil zur Legalisierung von Abtreibung 2022 gekippt und mehrere Urteile gesprochen, die Christen mehr Einfluss gewähren. Trump versteht sich als Kulturkrieger gegen das „Woke“. Er bedient das Bild vom starken Mann. Viele Anhänger deuten sein Überleben nach dem Attentatsversuch in Pennsylvania als göttliches Zeichen.
Dennoch ist Trumps Wahlstrategie riskant. Das Abtreibungsurteil hat Befürworter reproduktiver Freiheit mobilisiert. Weiße Evangelikale und Protestanten sind nicht mehr die große Mehrheit, auch wenn die Präsidentenwahlen von 2020 zeigten, dass diese Bevölkerungsgruppen fleißig zum Wählen gehen. Die „moralische Mehrheit“, wie sie noch Reagan nutzte, löste sich Ende der 1980er-Jahre auf und wurde durch zahlreiche Nachfolger ersetzt. Jerry Falwell starb 2007. Sohn Jerry Falwell Jr., Chef der vom Vater gegründeten Liberty University, hat 2016 als einer der ersten namhaften Evangelikalen Donald Trump unterstützt. Nach dessen Sexskandal und den Vertuschungsversuchen ist er 2020 von seinem Posten zurückgetreten.