Elisabeth Pape geht immer noch nicht gern ins Café. In ihrer Kindheit musste an jeder Ecke gespart werden. Nicht vorstellbar war es damals, woanders als zu Hause zu essen oder zu trinken, zumindest nicht im teuren Deutschland. Unser Gespräch steht also unter dem Stern einer Überwindung: Nämlich der, sich in einem dieser makellosen Orte im hübsch-hippen Teil des Berliner Wedding sogenannte Iced Chai Latte zu bestellen, deren Gesamtsumme in den zweistelligen Bereich schießt.
Pape schaut kurz schockiert, fragt dann aber entschlossen nach der Rechnung. Ganz schön TEUER, sagt sie. Pape betont einzelne Wörter gerne etwas deutlicher. In unserer schriftlichen Kommunikation macht sie Gebrauch von Majuskeln, um etwas hervorzuheben. Doch es ist mehr als diese sprachliche Angewohnheit, die die 30-jährige Autorin mit ihrer namenlosen Protagonistin teilt.
Halbe Portion, Papes erster Roman, handelt von einer jungen Frau, die an einer Essstörung leidet – und an dem Zwang, nicht nur jedes Kilo auf den Rippen, sondern auch jeden Cent zu zählen, den sie für Essen ausgibt. Die Erzählebenen wechseln zwischen einem „Früher“ und einem „Jetzt“; das „Ich“ bleibt dabei gleich. In den Früher-Passagen spricht das „Ich“ zur Mutter: einer alleinerziehenden Ukrainerin, die ein ungesundes Verhältnis zu ihrem Körper hat und ihre Tochter zum Klavierspielen drängt und ihr bei Befolgung eine halbe Tiefkühlpizza verspricht. Die Kalorien zählt sie auch bei der Kleinen ab.
Bulimische Stopf- und Kotzattacken
Es ist ein Aufwachsen geprägt von Armut und Instabilität, von einer müden Mutter, die in Berlin schwer ankommt, Hartz IV erhält. Momente des Lichts gibt es wenige, sie lesen sich dafür umso bewegender: etwa die Besuche bei der Großmutter in Czernowitz in der Ukraine, bei denen das Geld für einen Besuch im Café auf einmal reicht.
In den „Jetzt“-Passagen, in einer Gegenwart der 2020er, kämpft das „Ich“ mit den Dämonen der Kindheit. Es leistet prekäre Arbeit in einem Blockbuster-Kino und schreibt als freie Autorin Texte fürs Theater. Letzteres fällt ihr besonders schwer, weil es zwischen bulimischen Stopf- und Kotzattacken und der zermürbenden Suche nach einem Therapieplatz an einem strukturierten Alltag und vor allem an Hilfe fehlt.
Literaturwissenschaftlich gesehen müsste man zwischen der erzählenden Protagonistin und der Autorin selbst unterscheiden. Nicht einfach ist das, wenn Pape selbst immer wieder ins „Ich“ rutscht, sobald sie von ihrer Figur spricht. Sie überlegt: „Klar ziehe ich aus meinem Alltag. Im Buch ist viel von mir drin – viel aber auch nicht.“ Im „Jetzt“ stecke mehr Fiktion als in den „Früher“-Passagen. „Vielleicht, weil ich zu meiner Kindheit mehr zeitlichen und emotionalen Abstand habe.“
Im Kino wird das „Popcorn gepoppt“
Wie ihre Protagonistin schreibt Pape fürs Theater. Vielleicht, sagt sie, liegt der größte Unterschied zu ihrer mit dem Schreiben so hadernden Figur darin, dass Pape sich trotz schwerer Umstände für den Autorinnenberuf entschieden hat. Nach dem Abi hatte sie sich mit absurden Nebenjobs und Bafög-Höchstsatz das Literaturstudium an der FU Berlin finanziert, später das szenische Schreiben an der UdK.
Halbe Portion trägt trotz Tragik viele komische Momente. Über misslungene Bumble-Dates mit selbst ernannten Feministen wird referiert, der Ton wird dann selbstironisch, manchmal angenehm albern. In Szenen über die Kino-Drecksarbeit etwa wird das „Popcorn gepoppt“, der Satz wird genüsslich wiederholt.
Es ist ein inniges Debüt, trotz der Traurigkeit, die Papes Figur ausstrahlt. „Ohne Humor würde bei mir nichts gehen. Wenn ich mich beim Schreiben nicht auch ein bisschen über mich selbst lustig machen würde, wäre das eine viel zu harte Geschichte geworden. Das hätte niemand ertragen“, sagt Pape. Doch sie müsse aufpassen, nicht immer alles „wegzulachen“.
Die Autorin spricht von „Selbstwertproblemen, einem Hochstaplersyndrom“. Sie neige dazu, manchmal eine „Ist alles egal, für mich interessiert sich sowieso niemand“-Haltung einzunehmen. Und arbeite noch an der irrationalen Angst, „irgendwann aufzufliegen“. Aktuell versuche sie zu lernen, professioneller aufzutreten.
Zahnschiene kennt man aus ihren Instagram-Storys
Und entschuldigt sich eine Minute später, sie müsse auf dem Klo kurz ihre medizinisch „total notwendige“, aber leider nicht von der Kasse übernommene Zahnschiene putzen. Für die sei ein Großteil des Buchhonorars draufgegangen. Pape sagt mit einem Lachen: „Vielleicht sollte ich einen Text schreiben über absurde Kieferorthopädie-Preise, und dann versuchen, die Behandlung von der Steuer abzusetzen.“
Die Zahnschiene kennt man aus ihren Instagram-Storys. Pape verfolgt die Devise, immer genau das in die digitale Welt zu senden, was ihr am unangenehmsten ist: morgendliche Mental-Health-Spaziergänge oder Sehnenscheidenentzündungen durch zu vieles Tippen. Wenn darauf dann Leute reagierten, gehe es ihr oft wieder besser. „Instagram ist ein ganz großer Quatsch unserer kapitalistischen Gegenwart. Es ist offensichtlich, dass uns das allen überhaupt nicht guttut, aber als junger, kreativ arbeitender Mensch wird man zur Nutzung regelrecht gezwungen.“
Hätte Pape kein Instagram, hätte damals etwa die Literaturagentin sie womöglich gar nicht kontaktieren können. Die ständige Selbstvermarktung empfindet sie als bescheuert. „Dann will ich wenigstens lustig sein dabei.“ Stolz fügt sie hinzu: „Nicht viele Leute sind wirklich witzig. Das ist eine Qualität von mir, die sich auch positiv auf mein Schreiben auswirkt.“
Lesung bei Suhrkamp-Party
Wenige Tage nach dem Gespräch mit dem Freitag feiert Papes Verlag Suhrkamp sein 75-jähriges Jubiläum im Literarischen Colloquium am Wannsee. Am letzten Sommertag glitzert das Wasser, spiegelt sich in den Weingläsern – vor so viel Bildungsbürgertum hat Pape noch nie gelesen. Nachdem sie von der Dramatikerin Sasha Salzmann anmoderiert worden ist, rutscht ihr ein lautes „JAWOLLO“ raus, und auch im weiteren Gespräch schafft sie sich Luft: „Gott, es ist alles so ERNST hier!“
Am Büchertisch aber stehen viele, die sich Postkarten signieren lassen wollen, als Vorgeschmack auf den Roman, der noch im Druck ist. Pape ist erleichtert: „Vorhin kamen zwei ältere Damen zu mir und meinten, sie fanden die Lesung authentisch. Die eine hat von ihrer Tochter erzählt, die selbst anorektisch war, hat zu Essstörungen also einen Bezug. Sie will mein Buch lesen. Das hat mich so gefreut, ich will ja Menschen erreichen.“
Die neue Öffentlichkeit fühle sich manchmal an „wie ein Ausflug in eine andere Welt“. „Aber dann denke ich an die Menschen, die mein Buch lesen werden.“ Ihr sei wichtig, Lesern, die Armut nicht erlebt haben, zu zeigen, was das bedeute. „Immer kalt zu duschen, um zu sparen, oder seinem Kind am Späti nicht einmal einen verdammten Schlumpf kaufen zu können. Ja, vielleicht will ich ein Stück weit auch, dass Leute sich für ihre Privilegien schämen.“ Pape hält inne, revidiert, Scham könne schließlich nichts verändern. „Oder vielleicht doch?“
Pape lernte Altgriechisch und Latein
Nicht nur der Hunger, wie Pape auf dem Podium sagt, zieht sich durch ihr Leben. Es sei auch die Wut. Als Workshopleiterin für Studierende habe sie kürzlich ein neues Format ausprobiert: Unter dem Motto „Klassenreisen“ gab sie einen Schreibkurs für Erst-Akademiker. Bei der Vorbereitung sei ihr aufgefallen, dass es zwar „zig Handbücher“ zum kreativen Schreiben gebe, aber kein einziges dazu, wie man an der Uni als „jemand, der ohne Bildung und Wohlstand aufgewachsen ist“, zurechtkommen soll.
„Letztendlich haben sich weniger Leute angemeldet als sonst. Vielleicht, weil kaum Leute studieren, die aus Familien wie meiner kommen? Oder weil die Scham zu groß ist?“ Auch Papes Protagonistin fühlt sich mit ihrer Situation allein, ist wütend auf Bekannte, für die das Leben aufgrund von Geld einfacher ist. Als Kind leidet sie, wenn andere eine Halloween-Party mit perfekten Kostümen stürmen, während ihre Mutter kein Laken für die Gespenst-Verkleidung opfern will – denn alles wird benutzt, nichts wird verschwendet. „Deswegen liebe ich Details“, sagt sie.
„Es sind diese kleinen Momente, in denen man Armut spürt. Die man als Kind noch nicht äußern kann.“ Die Autorin ist im bürgerlichen Steglitz aufgewachsen. Um es besser zu haben, sollte sie ein humanistisches Gymnasium besuchen, mit Latein und Altgriechisch. „Die Schule war schrecklich, ich fühlte mich fehl am Platz.“
Gleichzeitig habe ihr genau diese Umgebung Türen geöffnet: „Die Mädchen, mit denen ich mich angefreundet habe, sind zum Jugendtheater im Kiez gegangen. So bekam auch ich Zugang.“ Pape kann ihre Wut reflektieren – an der Rolle als „treibender Kraft“ für ihr Schreiben ändert das nichts. Von neoliberalen Geschichten des sozialen Aufstiegs durch harte Arbeit hält sie nämlich wenig.
Halbe Portion Elisabeth Pape Suhrkamp 2025, 377 S., 22 € Das Buch erscheint am 13. Oktober