Nach dem plötzlichen Tod von René Pollesch im vergangenen Februar werden nun einige seiner vielen Inszenierungen wieder auf die Bühne gebracht. Beim Zuschauen widerfährt unserer Kritikerin ein Knacks der Trauer
In der Kunst sind wir es grundsätzlich gewohnt, uns mit Toten zu befassen. In der Literatur und der Malerei, im Film und in der Musik – ständig beschäftigen wir uns mit den Werken teilweise schon vor langer Zeit verstorbener Künstler:innen. Im Theater ist das nicht so. Es ist, einmal abgesehen von den Autor:innen, deren Texte aufgeführt werden, auf lebendige Menschen angewiesen und hat als Kunstgattung vergleichsweise die Lebensdauer einer Eintagsfliege.
Inszenierungen von verstorbenen Theatermacher:innen gibt es daher so gut wie nicht, bis auf sehr wenige Ausnahmen. Heiner Müllers Inszenierung von Bertolt Brechts Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui ist so ein Beispiel: Sie entstand 1995 am Berliner Ensemble, kurz vor Müllers Tod – ganze 25 Jahre lang war sie dort dann noch mit über 400 Vorstellungen zu sehen, mit sich ändernden Besetzungen. Erst die Corona-Pandemie setzte dem ein Ende. Ich liebte diesen Abend und habe ihn, immer mit mehrjähriger Pause, oft gesehen.
Es war nicht nur das Erleben der Kunst eines verstorbenen Theaterregisseurs, sondern auch ein Blick in den ästhetischen Zustand des Theaters zu jener Zeit. Beim Immer-wieder-Sehen des Ui wurde mir jedes Mal klar, wie absolut gegenwärtig Theater ist und wie zeitgebunden. Kein Mensch würde heute noch so inszenieren; es ist witzig und klug, aber komplett veraltet. Vielleicht schaut man sich dieses historisch gewordene Theater nur aufgrund einer morbiden Wehmut und Liebe an?
So jedenfalls fühlte ich mich jetzt, als ich mir die Wiederaufnahme von Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien) von René Pollesch ansah. Nach seinem für viele plötzlichen und schrecklichen Tod im vergangenen Februar werden nun einige seiner vielen Inszenierungen wieder auf die Bühne gebracht. Das Schauspielhaus Zürich hat etwa anstelle einer geplanten Neuinszenierung gerade Liebe, einfach außerirdisch übernommen, das 2022 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wurde. Mit den Manzini-Studien hatte jetzt wiederum eine Zürcher Inszenierung von 2018 an der Berliner Volksbühne Premiere. Und fast wie bei der alten Müller-Inszenierung war auch dies eine Begegnung mit einer vergangenen Zeit. 2018 war die Welt ja gefühlt in einem besseren Zustand als heute und das merkt man dem Abend an.
Pollesch unbekümmert
Stimmungsvolle Einlassmusik erinnert gleich an alte Zeiten, bis Kathrin Angerer, Marie Rosa Tietjen und Martin Wuttke (übrigens auch Müllers Original-Ui) durch einen schwarz-weiß gestreiften Vorhang stolpern und sich offenbar verlaufen haben in einer schon sechs Stunden dauernden Sommernachtstraum-Aufführung, in der alle sicheren Identitäten verloren gegangen sind. So fragen sich dann diese drei, wie das denn komme, das mit dem Knacks, den jeder hat. Und warum man den nicht sieht, wie bei einem Teller. Und warum und wie man Menschen mit Knacks lieben kann und sollte.
Eine riesige Gorilla-Hand (Yes! Filmzitat: King Kong, erkennt der Pollesch-Fan sogleich die vertraute Regiehandschrift) senkt sich später vor einer Wasserfallfototapete zur Jazzvariante von Also sprach Zarathustra nieder (Klingeling! Nächstes Filmzitat: 2001: Odysee im Weltraum! Gott, ich liebe diesen Abend, schreit das Theaterherz), auf der dann Angerer – in einer Art, wie nur sie es kann – dem Gorilla erzählt, wie sie seinen „Jaguar“ (hahaha) einst in eine Waschanlage fuhr und dabei einen Nervenzusammenbruch erlitt. Einen Knacks eben.
Beim Zuschauen erlitt ich dann einen Knacks der Trauer: noch mal so einen eher unbekümmerten Pollesch zu sehen, diese liebevolle Verspieltheit – alles Vergangenheit. Aber wie es auch an einer Textstelle hieß: „In Venedig steht an der Decke vom Markusdom: Alles kommt wieder.“ Für das Theater von René Pollesch kann man eigentlich nur denken: Hoffentlich.