Politische Inhalte hinaus Instagram: Wer Algospeak versteht, weiß dann Bescheid

Letzte Woche hat Instagram Politik auf der
Plattform weitgehend den Hahn abgedreht. Fortan sollen politische Inhalte von
nicht gefolgten Accounts nicht mehr algorithmisch empfohlen werden. Auf einer
Plattform, die inzwischen fast so algorithmisch geordnet wie TikTok ist, kommt
das praktisch einer Verbannung politischer Inhalte gleich, mindestens ist es eine
drastische Dezimierung. Nutzer, die in den Untiefen der Einstellungen
den richtigen Schalter finden, können die neue Regelung zwar deaktivieren, doch
viele dürften die Änderung gar nicht mitbekommen haben – denn wirklich
informiert wurden sie seitens Instagram nicht darüber. Zu einem besseren, vom
polarisierten Kulturkampf befreiten Ort wird das die Plattform nicht
machen. Die politischen Ränder haben nämlich längst Übung darin, den
Algorithmus auszutricksen. Schaden wir die neue Regelung im Endeffekt deshalb
dem politisch gemäßigten Rest. 

Zunächst: Was ist überhaupt „politisch“? Von
Aristoteles über Thomas Hobbes bis Hannah Arendt wurden genauso viele
Definitionen vorgelegt, wie sie von anderen wieder verworfen wurden. Zum Glück
hat Mark Zuckerberg in der Debatte nun ein abschließendes Machtwort gesprochen:
„Politische Inhalte“, so steht es seit Kurzem in den Instagram-Einstellungen,
„erwähnen wahrscheinlich Regierungen, Wahlen oder soziale Themen, die eine
Gruppe von Menschen und/oder die Gesellschaft insgesamt betreffen“. Dann wäre
das wohl geklärt, die politikwissenschaftlichen Fakultäten könnten nun guten
Gewissens zu Eisdielen oder Rollschuhbahnen umgebaut werden. Bleibt indes
die Frage, wie genau die Algorithmen mit dieser äußerst vagen Definition
arbeiten sollen? Denn trotz aller technologischen Fortschritte sind das weiterhin
äußerst grobe Instrumente, meist wenig mehr als schlichte Wortfilter, die
keinen Kontext verstehen können.

Natürlich ist schon heute der Großteil des
Internets von Algorithmen geordnet, Instagrams Politik-Aus ist nur der neueste Ausdruck
davon. Ob auf YouTube, Amazon, Facebook oder Google Maps, überall entscheiden
sie, was wir sehen und wer uns sieht. Die Kriterien, nach denen die Algorithmen
Sichtbarkeit und Reichweite gewähren, sind dabei meist Betriebsgeheimnis der
großen Tech-Unternehmen.

Mit Winnie Puh gegen die Sowjetzensur

Das lässt User, die nicht selten auch
wirtschaftlich von diesen Algorithmen abhängig sind, viel Raum zum Spekulieren.
Es bilden sich digitale Bauernweisheiten heraus, gefühlte Dos and Don’ts
einer digital vermittelten Existenz. So findet sich in Instagram-Stories oft
etwa der vermeintlich plattform-reflexive Hinweis, man poste zunächst ein Selfie „für den Algorithmus!“, gewissermaßen als
Reichweitenanschub für den nachfolgenden
Content. Airbnb-Vermieter aktualisieren besonders
häufig ihr Profil,
um von
der Plattform als aktiv wahrgenommen und prominent angezeigt zu werden. Google
hat sogar eine eigene Priesterklasse begehrter Search-Engine-Optimization-Experten
hervorgebracht, die aus dem algorithmischen Kaffeesatz die besten Tipps und
Tricks lesen, wie sie ihre Kunden am besten in die
lukrativen Top-10-Suchergebnisse befördern können – manches davon hilft,
manches nicht.

Doch den direktesten Blick in Instagrams
vermeintlich unpolitische Zukunft bietet TikTok. Hier bestimmt der Algorithmus
fast jeden Aspekt der App und ist bekannt dafür, bestimmte Themen nicht zu
mögen: Eine Recherche von NDR, WDR und Tagesschau
zeigte 2022, dass die
Plattform Videos mit den Worten „Nazi“ oder „Kokain“ aus den Feeds der User
herausfiltert, doch auch welche mit „LGBTQ“, „Sex“ oder „gay“. Während die
Journalisten noch mühsam recherchierten, waren die Nutzer der App längst einen
Schritt weiter. Sie begannen, ihre Videos vor dem Algorithmus zu tarnen, indem
sie „Sex“ als „seggs“ schreiben, „suicide“ oder „kill“ zu „unalive“ machen, Pandemie
ist „panda express“ oder „panini“ und Sexarbeiter nennen sich „accountant“. Die
Journalistin Taylor Lorenz taufte 2022
diese Sprache zutreffend als „Algospeak“. Das beschreibt eine „äsopische Sprache“, begrifflich abgeleitet vom antiken Fabeldichter Äsop, wie man sie historisch bereits im
zaristischen Russland und in der Sowjetunion finden konnte.

Denn in Russland, so schrieb es einst der
russisch-amerikanische Autor Vladimir Nabokov, „entstand die Zensurbehörde vor
der Literatur“ und fügte augenzwinkernd hinzu, ebenso der „Drang, ihr eins
auszuwischen“. Regimekritische russische und sowjetische Autoren standen vor
einer schwierigen Aufgabe, dem Zensor das eine und dem restlichen Publikum das
andere lesen zu lassen – durch Andeutungen, Symbole, gezielte
Anachronismen und mehr. So wie der griechische Sklave und Dichter Äsop die
wahre Bedeutung seiner Fabeln in Gleichnissen und Allegorien versteckte. Vinni
Pukh,
die russische Übersetzung von Pu der Bär, ist daher voll subtiler Wortspiele, die die sowjetische Ideologie
kritisierten. Und selbst heute finden sich in Russland Graffitis durchkreuzter Fische
als Protest gegen den Krieg
in der Ukraine, weil im russischen net voble („Nein zu gepökeltem
Fisch“) den Worten net voine („Nein zum Krieg“) ähnelt. Zensur, selbst
wenn sie tödlicher Ernst ist, fördert eine Kreativität, die Literatur eine
spielerische Zusatzdimension verleihen kann.

Letzte Woche hat Instagram Politik auf der
Plattform weitgehend den Hahn abgedreht. Fortan sollen politische Inhalte von
nicht gefolgten Accounts nicht mehr algorithmisch empfohlen werden. Auf einer
Plattform, die inzwischen fast so algorithmisch geordnet wie TikTok ist, kommt
das praktisch einer Verbannung politischer Inhalte gleich, mindestens ist es eine
drastische Dezimierung. Nutzer, die in den Untiefen der Einstellungen
den richtigen Schalter finden, können die neue Regelung zwar deaktivieren, doch
viele dürften die Änderung gar nicht mitbekommen haben – denn wirklich
informiert wurden sie seitens Instagram nicht darüber. Zu einem besseren, vom
polarisierten Kulturkampf befreiten Ort wird das die Plattform nicht
machen. Die politischen Ränder haben nämlich längst Übung darin, den
Algorithmus auszutricksen. Schaden wir die neue Regelung im Endeffekt deshalb
dem politisch gemäßigten Rest. 

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