Nach EU-Recht muss die polnische Justiz dem Auslieferungbegehren stattgeben, doch das scheint politisch alles andere als erwünscht zu sein. Warschau und Berlin steuern auf den nächsten Konflikt zu
Der ukrainische Seefahrer Wolodymyr Z., kurz bevor er in einer polnischen Arrestzelle anlegt
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Die Mühlen der Bundesanwaltschaft mahlen langsam, aber sie mahlen. Gut drei Jahre nach den spektakulären Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee sind den Ermittlern alle sieben Tatverdächtigen namentlich bekannt. Sie stammen aus der Ukraine, gelten als erfahrene Taucher wie Sprengstoffexperten und verfügen über Verbindungen zu Militär und Geheimdienst. Sechs von ihnen leben noch, gegen sie wurden Europäische Haftbefehle erwirkt. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen „gemeinschaftliches Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, verfassungsfeindliche Sabotage“ und die „Zerstörung von Bauwerken“ vor.
Zwei der Tatverdächtigen konnten in diesem Jahr festgenommen werden, zum einen Serhii K., den die italienische Polizei in der Provinz Rimini verhaftete, zum anderen Wolodymyr Z., den polnische Polizisten Ende September in der Nähe von Warschau festnahmen. Beide sollen Teil jener Segelcrew gewesen sein, die im September 2022 mit der Jacht „Andromeda“ und einer ordentlichen Menge Sprengstoff an Bord von Rostock-Warnemünde nach Bornholm schipperte, um die europäische Gasversorgung zu kappen und so Wladimir Putins Kriegskasse zu schädigen.
Donald Tusk klinkt sich ein
Die verhafteten Ukrainer wurden bislang nicht der deutschen Justiz übergeben. Sie wehren sich mit allen juristischen Mitteln gegen ihre Auslieferung und genießen dabei sogar die Fürsprache eines Regierungschefs. Polens Premier Donald Tusk klinkte sich – entgegen dem Gebot europäischer Rechtsstaaten, die Gewaltenteilung zu achten – in die Justizangelegenheit ein und drängte das zuständige polnische Gericht, die Vorschriften des Europäischen Haftbefehls im Fall des festgenommenen Wolodymyr Z. zu missachten. Tusk sagte: „Es liegt nicht im Interesse Polens und im Interesse eines Gefühls von Anstand und Gerechtigkeit, diesen Bürger anzuklagen oder an einen anderen Staat auszuliefern.“
Der Europäische Haftbefehl, der 2004 von den EU-Mitgliedsstaaten eingeführt wurde, um schier endlose Auslieferungsverfahren zu beschleunigen, legt allerdings unmissverständlich fest, wie bei bestimmten Straftaten zu verfahren ist. Geht es um Terrorismus, Sabotage, Beihilfe zur illegalen Einreise, Fälschung von amtlichen Dokumenten oder Umweltkriminalität (Tatbestände, die alle auf den Pipeline-Anschlag zutreffen), muss der EU-„Vollstreckungsmitgliedsstaat“ (in diesem Fall Polen) den Verdächtigen übergeben, und zwar ohne Nachprüfung, ob die Taten in beiden Ländern auch wirklich strafbar sind.
Innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme hat ein Gericht zu entscheiden, ob der Haftbefehl vollstreckt wird. Nach weiteren zehn Tagen muss der Verdächtige ausgeliefert werden. Zwar lassen sich diese Fristen durch Einsprüche hinauszögern, etwa durch Vorbehalte hinsichtlich einer menschenwürdigen Haftunterbringung in Deutschland oder durch die Behauptung, nicht genügend Informationen erhalten zu haben, aber letztlich kann nur eine politisch fragwürdige Entscheidung den Haftbefehl eines EU-Mitgliedsstaates unterlaufen. Tusk scheint genau dies anzustreben, indem er den Anschlag zur patriotischen Heldentat (v)erklärt und Wolodymyr Z. die Unterstützung der polnischen Regierung verspricht. In einer markigen Solidaritätsadresse entschuldigte er die Tat so: „Das Problem ist nicht, dass Nord Stream 2 in die Luft gesprengt wurde, das Problem ist, dass es gebaut wurde.“
Das einzige Mittel, die Auslieferung zu verhindern, wäre also, dem Tatverdächtigen „funktionelle Immunität“ zuzubilligen. Ist die Sprengung der Pipelines im Auftrag eines Staates erfolgt, könnten die Attentäter als bloße Befehlsempfänger der Gerichtsbarkeit entzogen werden – es sei denn, sie hätten sich schwerster Kriegsverbrechen im Sinne des Völkerstrafrechts schuldig gemacht. Dazu zählt außer Genozid, Geiselnahme und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung auch „die Zerstörung von Eigentum in großem Ausmaß, die militärisch nicht gerechtfertigt ist und willkürlich vorgenommen wird“. Da die Pipelines allein der Energieversorgung großer Teile der europäischen Industrie und Bevölkerung dienten und die EU im russisch-ukrainischen Krieg kein „Ziel legitimer Kriegshandlungen“ ist, könnten die Verfahren gegen das Sabotage-Team letztlich auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof landen. Fragt sich nur, ob die deutsche Regierung den Willen, den Mut und das nötige Selbstbewusstsein für einen Gang nach Den Haag aufbringt.
Ukraine könnte der Auftraggeber gewesen sein
Beschließt die polnische Justiz gemäß der Einlassung Donald Tusks, Wolodymyr Z. nicht auszuliefern, kein Verfahren gegen ihn einzuleiten und ihn mit guten Wünschen und einem aufmunternden „Slava Ukraini!“ aus der Untersuchungshaft zu entlassen, so wäre das nicht nur ein eklatanter Verstoß gegen geltendes EU-Recht, sondern auch das Eingeständnis, dass die Nord-Stream-Attentäter staatliche Auftraggeber und Unterstützer hatten. Das wiederum brächte die Staats- und Militärführung der Ukraine in die Bredouille, die stets abgestritten hat, in irgendeiner Weise für den Sabotageakt verantwortlich zu sein.
Das juristische Tauziehen und die Spekulationen werden daher weitergehen. So ist immer noch ungeklärt, ob die Tauchercrew auf der „Andromeda“ den Anschlag tatsächlich ausgeführt hat oder ob ihr auffälliges Herumschippern auf der Ostsee zwischen Deutschland, Dänemark, Schweden und Polen nur ein Ablenkungsmanöver für einen ganz anderen Täter war.