Polarisierung | Extrem sind immer die anderen: Wie wir uns die Polarisierung herbeireden

Rechts nutzt die Polarisierung, Links warnt vor ihr – und beide tragen zum selben Effekt bei. Der Soziologe Nils C. Kumkar zeigt in „Polarisierung“, wie das Beschwören der Spaltung die Demokratie paradox belebt und zugleich vergiftet


Obwohl die meisten bei Konfliktthemen gen Mitte tendieren, erklären sie ihre Position stets mit Verweis auf die Extrempositionen

Foto: Dimitris66/gettyimages


Wer Nachrichten hört, zuweilen Talkshows ansieht oder mit der Nachbarin plaudert, weiß: Polarisierung ist eins der größten Probleme unserer Zeit. Zwei Drittel der Deutschen treibt diese Sorge um. Nicht nur der Bundespräsident rät deshalb: mehr und vor allem versöhnlich aufeinander zugehen. Nun ist es allerdings so: Die empirische Soziologie kann mitnichten zwei feindliche Meinungslager erkennen.

Die meisten nehmen bei den gängigen Streitthemen Mittelpositionen ein, wie Steffen Mau und seine Kollegen 2023 in ihrem Bestseller Triggerpunkte nachgewiesen haben. Alles nur Einbildung also? Nein, meint der Bremer Soziologe Nils C. Kumkar in seinem Buch Polarisierung. Über die Ordnung der Politik. Seine Ausgangsbeobachtung lautet: Beides stimmt.

Mag sein, dass keine Spaltung erkennbar ist. Aber wenn „wir Polarisierung nur dementieren, ohne herauszuarbeiten, was die Öffentlichkeit im Eindruck der Polarisierung verhandelt, dann bleiben wir gewissermaßen auf halber Strecke stehen“. Kumkar schlägt deshalb vor, Polarisierung als „Ordnungsmuster der politischen Kommunikation“ zu verstehen.

Polarisierung ist eine self-fulfilling prophecy

Das heißt: Obwohl die meisten bei Konfliktthemen gen Mitte tendieren, erklären sie ihre Position stets mit Verweis auf die Extrempositionen. Das kennen wir aus der Nahost-Debatte. Viele Wortbeiträge beginnen dann mit der Klage: Die einen rechtfertigen Netanjahus brutale Kriegsführung, die anderen sind Hamas-Apologeten! Extrem sind eben immer die anderen. Nur ist es so, dass die anderen das Gleiche behaupten würden. Diese kleine Perspektivverschiebung macht einen großen Unterschied – und Kumkars Ansatz so lesenswert.

Während all die Polarisierungsbücher, die den Buchmarkt fluten, die Spaltungsthese für gegeben nehmen, zeigt Kumkar: Die Gesellschaft kommt uns so unversöhnlich vor, weil wir permanent das Spaltungsbild heraufbeschwören. Polarisierung ist eine self-fulfilling prophecy. Allerdings erfüllt all das einen Zweck: In unübersichtlichen Debatten schafft die Zwei-Seiten-Schablone Überblick. Oder wie Kumkar resümiert: „Eine Welt voller Themenextremist:innen ist vielleicht nicht schön – aber übersichtlich.“

Außerdem gibt er zu bedenken: „Polarisierung lädt zum Mitmachen ein.“ Die moderne Massendemokratie verbannt die einfachen Leute auf die Zuschauerränge. Polarisierung hingegen überbrückt den Graben zwischen gemeinem Publikum und hoher Politikertribüne. Wenn die Migrationsdebatte auf „raus oder rein“ zugespitzt wird, können alle mitreden. Selbst diejenigen, die das Politiktheater ablehnen, treibt die Polarisierung zur Wahlurne.

Könnte es darum gehen, weniger regiert zu werden?

Ein Kreuz für die AfD ist trotzdem eine Wahlbeteiligung. Die Polarisierungsstrategie der Rechten macht sich das Grundproblem der repräsentativen Demokratie zunutze: den Unmut der Menschen, passiv regiert zu werden. Ihr Erfolg ergibt sich daraus, dass sie die Polarisierungsdynamik der modernen Politik „aufgreifen, sie freidrehen und gerade dadurch heiß laufen lassen“.

Gegen Ende erwähnt Kumkar noch, eine progressive „Gegenpolarisierung“ könne die Rechten aus ihrer Rolle der Fundamentalopposition verdrängen. Wie genau das aussehen könnte, führt er jedoch nicht aus. Ganz der Wissenschaftler, scheut er sich, aus der Analyse politisch-strategische Überlegungen abzuleiten. Allerdings ist die Frage der Gegenpolarisierung gar nicht die spannendste. Eine grundlegendere Frage spart das Buch aus.

Anstatt es den Rechten gleichzutun, könnte man fragen: Ist es in einer Demokratie wirklich unerlässlich, die Menschen auf die Zuschauertribüne zu verbannen – oder könnte man ihnen im Betrieb, in der lokalen Stadtgestaltung und nationalen Richtungsentscheidungen mehr Mitbestimmungsrechte einräumen? Kurzum: Beschränkt sich Politik darauf, zu regieren oder den Unmut dagegen zu mobilisieren – oder könnte es auch darum gehen, weniger regiert zu werden?

Polarisierung. Über die Ordnung der Politik Nils C. Kumkar Suhrkamp, 290 S., 18 €

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