Dichter sind Schöpfer. Doch will jedes Gedicht erst geschrieben sein. Ein ergreifendes Gedicht über Grenzen und Vermögen des Dichters hat Agi Mishol geschrieben. 1946 als Tochter von ungarischen Shoah-Überlebenden in Transsilvanien geboren, übersiedelte sie mit ihrer Familie 1950 nach Israel. Nach einem Literaturstudium und dem Ende ihrer ersten Ehe lebt Mishol heute mit ihrem Mann als Landwirtin südlich von Tel Aviv, unweit des Gaza-Streifens. In Israel ist sie eine bekannte Lyrikerin, und der Umstand, dass die Münchner Edition Lyrik Kabinett nun mit Gedicht für den unvollkommenen Menschen eine Auswahl ihrer Gedichte in der Übersetzung von Anne Birkenhauer herausbringt, ist ein Glück, denn Mishols Lyrik wird nun auch hier bekannter.
Man weiß es zweifelsfrei nach nur wenigen Gedichten: Hier spricht eine lyrische Stimme von Weltrang. Zärtlichkeit, die Treffsicherheit der Bilder, das Lakonische und das Witzige gehen in Mishols Gedichten eine tiefe Verbindung ein: „Kleiner Hase / gefangen im Strahl / hastet im Lichtkegel her und hin – // für dich verlösch ich die Scheinwerfer / fahre im Dunkel“, heißt es im Gedicht Hase. Sofort ist alles da: das verschreckte Tierchen, geblendet vom Licht, aber auch die Sanftheit des sprechenden Ichs, das die Bereitschaft bekundet, den Hasen aus dem Lichtbann zu befreien. Ein banales Gedicht? Sicherlich nicht, denn die Fahrt im Dunkeln fortzusetzen, birgt für den Hasen ja eine neue Gefahr. Häufig haben Mishols Gedichte diesen doppelten Boden, wie auch Vogel Strauß, in dem jener Moment der Schöpfungsgeschichte erzählt wird, in dem Gott ebenjenen Vogel erschuf: „Den Vogel Strauß schuf er aus den Resten / aus allem worüber er nicht sagen konnte / dass es gut war. // Er schuf ihn am Ende eines besonders anstrengenden Tages / sehr müde und unkonzentriert“, beginnt das Gedicht, das dann zur Charakterisierung des Vogels „Ziegenbockbeine mit Hühnerzehen ungewöhnlicher Größe verbindet“ und über die „geröteten Schenkel den Torso eines Huhns im schwarzen Federkleid“ setzt. Gottes Versuch, das traurig aussehende Wesen besser auszustatten, es zum größten Vogel der Welt und zum schnellsten derer, die auf zwei Beinen laufen, zu machen, gelingt nicht gänzlich, denn am Ende wird dem Strauß noch die „Metapher vom Kopf in den Sand“ beschert.
Was hat das nun mit dem Dichter als Schöpfer zu tun? Indem Mishol der Überschrift die Unterzeile „Der Dichter blättert in seinen Entwürfen“ beigibt, legt sie die Analogiebildung nahe, dass sich auch bei Dichtern Müdigkeit und Unkonzentriertheit aufs Tragikomischste rächen, und sei es, indem ihre Betrachtung dem Gegenstand unrecht tut. Derart komisch-abgründige Gedichte stehen andächtigen wie dem vom Zitronenbaum gegenüber: „Mit letzter Kraft / und wie um seine Existenz zu rechtfertigen / trägt der alte Baum / eine Zitrone // ich pflücke sie nicht / komme nur jeden Tag / an ihr zu riechen. / Alle Achtung! / sage ich zu ihm / was für eine schöne Zitrone!“
Eine Zitrone steht zentral neben dem Nachtgesang, mit dem man an Goethe und Hölderlin denken kann, im Titel des neunten Gedichtbands des 1952 geborenen Klaus Anders. Nach einer Gärtnerlehre, einem Gartenbaustudium und einem bewegten Berufsleben lebt er heute in Neuwied nahe Koblenz, übersetzt und dichtet. Seinen neuen Band durchweht ein tief melancholischer und existenzieller Ton, man wohnt einem liturgischen Sprechen bei, meditativ und konzentriert im Beunruhigenden des Daseins: „O Schlaf, auf deinen Eulenschwingen / gleiten wir in stille Räume, / wo Schrecken uns bedrängen, / wo uns Träume süß erfüllen. // Umfange, schließ mir die Augen; der Raupe, die ein Gehäuse spann, / gib Ruhe, stärke auch die Amsel, / die so müd war und doch sang“, heißt es in An den Schlaf, der bekanntlich der Bruder des Todes ist und dessen Janusköpfigkeit in den „bedrängenden Schrecken“ Ausdruck findet. Die Ruhe des Schlafs dagegen hat ihre Grenzen, wird bedrängt und bewegt vom Unbewussten.
Klaus Anders’ Gedichte sind fein tariert, blähen sich nicht, sie treten in Dialog nicht nur mit der Natur, sondern resonieren auch mit lyrischen Positionen der Gegenwart, etwa wenn in Vergass den Namen Verse des 1989 geborenen Yevgeniy Breyger zum Motto werden, zitieren mit dem Titel Tom Bombadils Wald J. R. R. Tolkiens Herrn der Ringe, bleiben aber auch im Dialog mit anderen Stimmen im Ton stets ganz bei sich, in der Konzentration auf Details, wissen, „dass Dill an Gurken kostbar ist wie / Blattgold auf den Kuppeln alter Städte“, wie es am Ende von Brief an das Vergessen heißt, noch in der Todesnähe, an die sich das sprechende Ich im Gedicht Aber dennoch erinnert.
Eine andere artifizielle Todesnähe stellt das Langgedicht die spinne der 1991 in Bern geborenen Eva Maria Leuenberger her. Ein sprechendes Ich, genannt „flügchen“, liegt in einem Raum auf einer Matratze, „flügellos gegen die zeit“, von draußen hört man die Straße und das Knacken einer Kastanie. Diesem Ich gegenüber befindet sich eine Spinne: „manchmal / schaust du sie an / und denkst: / ich könnte / mich ergeben“. Immer wieder scheint es, als käme der Raum selbst auf dieses Ich zu, das von Bildern, die durch die Risse in der Wand rieseln, bedrängt wird. Durch Wörter wie „asche“ oder „feuerräder“ evoziert das Gedicht ein bedrohliches Endzeitszenario. Die Spinne vervielfacht sich, wodurch sich auch die Bedrohung steigert. Leuenbergers Langgedicht lässt sich lesen als eine lyrische Paraphrase der menschlichen Schuldhaftigkeit an der Zerstörung der Welt, bleibt dabei aber nicht in den Fallstricken ökolyrischer Betulichkeit hängen. Man könnte es auch als eine Art Inversion von Blaise Pascals berühmtem Satz lesen: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“, aus den Pensées. Nachdem die Menschen ihre Zimmer verlassen und jede Menge Unheil angerichtet haben, ist die Rückkehr in die Ruhe unmöglich geworden.
Mit einem Langgedicht betritt auch die 1986 in Ulm geborene, heute in Wien lebende Frieda Paris die lyrische Bühne: Ihr Debüt Nachwasser landete sofort auf der Nachwuchsliste des Österreichischen Buchpreises. In Österreich war auch Paris’ große „Wortmutter“ Friederike Mayröcker zu Hause, mit deren Werk die Verse ebenso in Dialog treten wie mit denen anderer „Wortmütter“, etwa Else Lasker-Schüler, Ingeborg Bachmann, Hilde Domin, Inger Christensen oder Hertha Kräftner. Kindheitserinnerungen, Lesespuren, Gegenwartsbeobachtungen schießen in diesem Text zusammen, der wie die Geburt einer Lyrikerin aus den Möglichkeiten des Materials anmutet, in dem Motive ähnlich Refrains wiederkehren. Wie die legendären Schreibgefilde Mayröckers ist auch Paris’ Text ein Archiv aus Archiven, ein Gedicht, das nicht mehr auf den einen großen Schöpfer verweist, sondern Literatur als Beziehungsgeflecht begreift: Die Danksagungen sind in den Haupttext integriert, Eigenes und Fremdes werden ununterscheidbar. Es ist ein mutiges, gegen Hierarchien anschreibendes Projekt, ein Langgedicht wie ein Mobile: „ich glaube nicht, / dass wir in diesem Gedicht je / ankommen, sind wir nicht ständig / darin unterwegs? / und drehen uns?“
Gedicht für den unvollkommenen Menschen Agi Mishol Anne Birkenhauer (Übers.), Edition Lyrik Kabinett bei Hanser 2024, 112 S., 24 €
Nachtgesang einer Zitrone Klaus Anders Ginster Press 2024, 124 S., 18 €
die spinne Eva Maria Leuenberger Droschl 2024, 96 S., 21 €
Nachwasser Frieda Paris Voland & Quist 2024, 136 S., 22 €
Gedicht für den unvollkommenen Menschen Agi Mishol Anne Birkenhauer (Übers.), Edition Lyrik Kabinett bei Hanser 2024, 112 S., 24 €
Nachtgesang einer Zitrone Klaus Anders Ginster Press 2024, 124 S., 18 €
die spinne Eva Maria Leuenberger Droschl 2024, 96 S., 21 €
Nachwasser Frieda Paris Voland & Quist 2024, 136 S., 22 €