Ich habe neulich mal wieder etwas gelernt. Seien wir ehrlich, ich bin jetzt über 30, ich komme langsam in ein Alter, in dem bei vielen Menschen die ungute Überzeugung heranreift, grundsätzlich alles zu wissen. Nicht so bei mir, ich bin jetzt wieder geerdet, nachdem sich mir eine neue Welt erschlossen hat.
Dieser blinde Fleck, den ich bis vor Kurzem hatte, hat einen Namen: Ortskontrollfahrt. Kurz OKF, „im Jugendjargon ein Umherfahren ohne konkretes Ziel.“ So ist es beim rbb definiert, und der muss es wissen, denn seit Mitte Juli präsentiert der Sender mit OKF ein neues Podcast-Format mit der Politfluencerin Lilly Blaudszun und dem Aktivisten und Autor Jakob Springfeld. Was beide verbindet: Sie sind in Ostdeutschland groß geworden.
Genau darum dreht sich ihr Podcast: um das Großwerden im Osten, um Storys zwischen Plattenbau und Ponyhof. Mit wechselnden Gästen – vom Rapper Finch über die Influencerin „Stachel“ bis zur Journalistin Nhi Le – begeben sich die beiden Hosts auf imaginäre Ortskontrollfahrten, vorbei an Spaßbädern und Bratwurstbuden, und sprechen dabei über Lieblingsgerichte, das Feierngehen und überhaupt, wie es so ist, heute im Osten aufzuwachsen. Und noch eine andere Frage schwebt über dem Format: „Ist Ostdeutschland wirklich so Lostdeutschland?“
Sie wird gerade dieser Tage gerne und schnell mit „Ja!“ beantwortet. Keine zwei Wochen ist es her, dass die AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen Rekordergebnisse einfuhr – gerade auch bei jungen Menschen.
Solche Wahlergebnisse schockieren nachvollziehbarerweise. Und sie führen zu eingeübten medialen Reaktionsmustern. Dann untersuchen Reporter:innen in den AfD-Hochburgen, wieso „die Menschen dort“ nur die AfD wählen können. Das gezeichnete Bild? Hat zumindest Leerstellen. Ich, in München geboren und aufgewachsen, merke das erst, wenn ich Podcasts wie OKF höre. Weil dort mal nicht nur über junge Menschen aus Ostdeutschland gesprochen wird. Sie haben endlich selbst eine Stimme. Das ist wichtig und eben nirgends so gut darstellbar wie im Podcast. Die Geschichten bereichert es, wenn Finch stakkatohaft im breitesten Brandenburgisch erzählt oder Jakob Springfeld anfängt zu sächseln.
So eröffnet OKF einerseits einen „anderen Blick“, gleichzeitig ähnelt sich vieles. Mit Vodka Energy vorglühen und dann nicht in den Club kommen, das ist eine Erfahrung, die auch wir als Jugendliche in Bayern gemacht haben.
Was auch auffällt: In OKF wird die Jugendkultur betont – und die ist bunt und lebendig und hat mit dem oft bemühten Terminus „Dunkeldeutschland“ wenig zu tun. Das aber scheint eine bewusste Entscheidung zu sein. Jakob Springfeld weiß zum Beispiel, was es heißt, sich in Sachsen antifaschistisch zu engagieren und dafür bedroht und angefeindet zu werden. Im Podcast klingt das höchstens am Rande an.
Dieser Dimension widmet sich dafür ein anderer Podcast, der seit Anfang August in allen Podcatchern zu hören ist. In Springerstiefel. Die 90er sind zurück fragen sich der Rapper und Autor Hendrik Bolz, aufgewachsen in Stralsund, und der Reporter Don Pablo Mulemba, geboren in Eberswalde, warum wieder so viele Jugendliche in Ostdeutschland rechtsextrem werden.
In fünf Episoden zeichnen sie ein Bild, das einerseits stark an die Baseballschläger-Jahre erinnert, andererseits aber doch auch Hoffnung macht. Weil da Menschen sind, die sich dem Rechtsruck entgegenstellen. Eine Mutter, die ihren Sohn nicht an die Rechten verloren geben will. Ein Geflüchteter, der „sein Chemnitz“ nicht verlassen will. Zwei linke Schüler, die erkennen „wir sind nicht mehr“, die aber sagen, zu schweigen sei auch keine Option.
Und was hilft besser gegen Schweigen als viele Stimmen? Im Podcast sind sie jetzt zu hören.