Pipeline | Generalabrechnung mit welcher deutschen Russlandpolitik: „Das Versagen“

Wer eine knappe Zusammenfassung der deutschen Russlandpolitik etwa seit den 1980ern sucht, kann mit der Slawistin und Journalistin Katja Gloger auf das Prinzip der deutsch-russischen Energiepartnerschaft blicken. Die institutionalisierte ein Verhältnis, bei dem Russland billiges Gas für die angeblich weltmeisterliche Produktion deutscher Exportwaren lieferte. Das Verhältnis wuchs in eine einseitige Abhängigkeit: Kurz vor dem Angriff auf die ganze Ukraine 2022 sagte Wladimir Putin, er habe vor allem mit den Gaspipelines durch die Ostsee „den Westen gekauft“.

In dieser Partnerschaft gibt es klar definierte Bauwerke, wie etwa die Pipelines Nord Stream I und II und ihren administrativ-politischen Überbau. Es gibt Lobbyanstrengungen, Russlandtage, Handelskammer-Empfänge, populistische Interessen von Parteipolitikern. Es gibt sehr viel Geld.

Auffällig dabei, wie verlässlich Politiker die Interessen vor allem der deutschen Industrie vertraten. Ansonsten halfen verantwortliche Politiker und mindestens ein Generalinspekteur der Bundeswehr, die rücksichtslose Ausbeutung von Menschen und Umwelt mit allerlei selbstgefälligen Kultur-Bezügen aus der Großmachts-und-Kulturstaats-Kiste umkränzten.

Viele webten Argumente geschichtlicher Verantwortung ein und schauten dabei gern auf Umsatzzahlen. Das Ergebnis war eine immer kurzsichtigere politische Taktik, während Importe fossiler Energie ein kleptokratisches Regime, einen „Mafiastaat“ (Masha Gessen) nährten.

Ins Bild gehört auch, dass der Bundestag gleichzeitig immer mehr Kosten für die Verteidigung von Gesellschaft und Bündnissen in immer neuen Haushaltsgesetzen der „Schutzmacht USA“ überließ. Es war ein CSU-Politiker, der den Wehrdienst aussetzte, um Geld zu sparen. Gloger schaut nüchtern auf solche Zusammenhänge: „So zahlte sich die Friedensdividende aus“, schrieb sie im Schwarzbuch Putin.

Katja Gloger und Georg Mascolo nehmen deutsche Energiepolitik auseinander

Nun hat sie mit Georg Mascolo die deutsche Russlandpolitik nach der Wiedervereinigung auf knapp 500 Seiten durchleuchtet. Sie rücken knapp die Strategie Putins in den Blick, den Westen mit einer modernen Spielart des Kriegskapitalismus anzugreifen. Wer also in diesen struppigen Vorwintertagen eine ausgeprägte Depressionstoleranz hat, sollte unbedingt die faktensatte Generalabrechnung Das Versagen lesen.

Die Analyse von Gloger und Mascolo pflückt auseinander, wie die Bundesrepublik größere Teile ihrer Versorgung mit Energie und Wärme Russland überließ. Kurze Erinnerung mit Zahlen aus dem Bundeswirtschaftsministerium von 2021: Deutschland kaufte etwa 55 Prozent seines Gases, 35 Prozent seines Öls und 50 Prozent seiner Steinkohle aus Russland (auch wenn es seit der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt Kabinettsbeschlüsse gab, die eine Höchstgrenze von 30 Prozent der Energieversorgung aus der Sowjetunion festlegte).

In der EU sah es nicht besser aus, 20,2 Prozent aller nuklearen Brennelemente kamen von Rosatom und fast noch einmal so viel aus Kasachstan, das Russland in der Energiestrategie herzlich verbündet ist. Zwei von drei Meilern in der Schweiz wurden mit russischem Uran beliefert. Trotz Klimakatastrophe: Viele Strategien zur nachhaltigen Energiegewinnung hatten Politiker in Deutschland da schon abgewürgt. Außerdem wurde die Abhängigkeit von Energieimporten mit viel Arroganz gegen osteuropäische Staaten übermalt – deren Warnungen vor dem russischen Nachbarn schlugen deutsche Politiker und Militärs in den Wind.

Ein Sinnbild dafür ist die politische Strategie um die Stränge der Pipelines von Nord Stream: Das Argument, dass die deutsche Industrie ohne russisches Gas (der Preisvorteil gegenüber Flüssiggas lag bei etwa einem Drittel) nicht mehr günstig produzieren könne, half darüber hinwegzusehen, dass, wie Gloger und Mascolo schreiben, vor allem mit der zweiten Nord Stream ein russisches Endspiel um den Absatz fossiler Brennstoffe in Zeiten der Klimakrise begann: „Im Kampf um Marktmacht und Milliarden gelten zwei Kriterien: möglichst große Liefermengen und die Kontrolle über Transportwege – also Pipelines – für einen möglichst großen Absatzmarkt. Für Russland heißt der: Europa mit Deutschland als Brückenkopf.

Die zu erwartenden jährlichen Milliarden-Einkünfte allein aus Nord Stream 2 sichern das Überleben des Systems Putin. Nord Stream 2 ist Macht- und Geopolitik pur.“ Die Rolle Deutschlands ist offensichtlich: Als wichtigster Anlandepunkt für die russische Gaslieferung wollten wir so gern die lukrative Rolle der Drehscheibe für den Kontinent übernehmen. Auslöffeln musste die Suppe dann Robert Habeck, der sich als Wirtschaftsminister kurz nach Amtsantritt mit einer politischen Realität konfrontiert sah, gegen die er viele Jahre gekämpft hatte. Nicht Europa, sagt er im Kriegsjahr 2023, habe am Tropf gehangen. „Es war Deutschland. Europa zahlt den Preis für Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas.“

Fehlen von Weitsicht

Dabei hatte sich die deutsche Russlandpolitik aus mehreren Traditionslinien gespeist – ein sozialdemokratischer Pfad bog von der Neuen Ostpolitik Willy Brandts überraschenderweise zu „Sicherheitspartnerschaften“ in den 1980ern ab. Da vernebelte sich der Blick auf Bürgerrechtsbewegungen und Freiheitsbestrebungen durch die Hinwendung zur wirtschaftlichen Stabilisierung eines russländischen Machtsystems. Und dem erwarteten Return-on-Investment mit der Öffnung russischer Absatzmärkte.

Schließlich arbeiten Gerhard Schröder und der ehemalige Stasi-Offizier Matthias Warnig anderthalb Jahrzehnte erfolgreich daran, Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland zu zementieren. Wie sie dabei auch Manuela Schwesig und die Sozialdemokratie in Mecklenburg-Vorpommern einkauften, wie eifrig überhaupt viele in der ostdeutschen Sozialdemokratie versuchten, mit einem Schmeichelkurs gegenüber Russland anti-amerikanisches Sentiment zu bedienen, gehört zu den bizarren Kapiteln der Geschichte.

Gloger und Mascolo belegen aber auch, dass längst nicht nur die Russlandpolitik der SPD gefährlich naiv war. Auch CDU/CSU unter Helmut Kohl und die FDP mit Klaus Kinkel und Guido Westerwelle waren auf langfristige Wirtschaftsbeziehungen aus. CDU-Ministerpräsidenten und bayerische Wirtschaftsdelegationen fuhren gern nach Moskau. Als später Angela Merkel mit der FDP regierte, entschieden sie sich sogar für ein Programm umfassender Militärkooperationen.

Die Bundeswehr trieb die Modernisierung der russischen Armee voran. Eine ähnliche Idee für eine Zusammenarbeit mit der Armee der Ukraine wurde verhindert. Mit einigen Umwegen, aber doch vorausschaubar, landete das Merkelsche „Fahren auf Sicht“ beim Überfall auf die Ukraine 2014 und hangelte sich entlang der Farce der Verträge von Minsk zum offenen Kolonialkrieg gegen die ganze Ukraine, den Russland seit 2022 führt. Der große Aufwand, mit dem deutsche Diplomaten dies zu verhindern versuchten, konnte das Fehlen von Weitsicht und politischer Strategie nicht verhindern.

Mit Gloger und Mascolo kann man auf bittere Episoden schauen: Noch kurz vor der Vollinvasion 2022 hatte die stete Furcht, Russland zu ärgern, bedeutet, dass der Ukraine aus Deutschland nicht einmal gepanzerte Transporter für Verwundete von der Front zur Verfügung gestellt wurden. Robert Habeck hatte bei einem Besuch an der „Kontaktlinie“ im Frühsommer 2021 die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine angeregt. Die Unterstützung der Opfer eines militärischen Angriffs gehöre zu grünen Grundwerten, eine praktische Dimension von Begriffen wie Solidarität.

Zu Hause geriet Habeck sofort ins Mahlwerk kurzsichtiger Versuche, im aufziehenden Wahlkampf Gelände zu gewinnen: Rolf Mützenich erkannte darin, „wie wenig regierungsfähig und unaufrichtig die Grünen derzeit auftreten“, Johann Wadephul einen „falschen Weg“. Für Marie-Agnes Strack-Zimmermann hatten sich die Grünen „verirrlichtert“. Annalena Baerbock räumte Habecks Idee ab.

Man könnte nun meinen, Russlands Krieg gegen die Ukraine habe zu einer grundsätzlichen Neubewertung, zu größerem Nachdenken geführt. Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz haben sich vorsichtig von Positionen der sozialdemokratischen Russlandpolitik distanziert, Lars Klingbeil Fehler eingeräumt. Der ehemalige Minister Sigmar Gabriel formulierte kräftiger, dass das Prinzip Wandel durch Annäherung und ökonomische Integration mit Russland „das größte Scheitern deutscher Außenpolitik seit 1948“ bedeute.

Die Wahlkämpfe vor allem in ostdeutschen Bundesländern im nächsten Jahr werden zeigen, ob sich aus solchen Reden eine Haltung destilliert, für die die SPD streiten will. Dagegen tauchen ungefähr alle zwei Wochen Ministerpräsidenten wie Michael Kretschmer auf. Sie wollen baldmöglichst wieder günstige Energie aus Russland beziehen. Bei den stets unsicheren Kantonisten des BSW gibt es sowieso keine vernehmliche Kritik an Russland, Linke streiten lieber über eine Haltung zu Israel und Gaza.

Alice Weidel erklärt, Deutschland müsse wieder Energie kaufen, wo sie günstig sei – „in Russland“. Viele Wähler wärmen sich an der Vorstellung, ihren Lebensstil weiterführen zu können, wenn sie die AfD wählen. Abhängigkeiten lassen sich nicht von einem auf den nächsten Tag beenden. Oft genug aber verhindern das verantwortliche Politiker – vor wenigen Wochen hat das schwedische Außenministerium errechnet, dass die EU seit Beginn der russischen Vollinvasion 2022 Güter, vor allem fossile Energie, für 311 Milliarden Euro importierte.

Das Versagen Katja Gloger und Georg Mascolo Ullstein 2025, 496 S., 26,99 €

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