Hinter dem dicken Kühlturm des Gaskraftwerks ragt in kurzer Entfernung derjenige des Kernkraftwerks Emsland in den Himmel, das im vergangenen Jahr abgeschaltet wurde. In unmittelbarer Nähe blickt man auch auf die Reste des kuppelförmigen Baus des schon vor Jahrzehnten heruntergefahrenen Atomkraftwerks Lingen. Ansonsten ist das Gelände geprägt von vielen Bauzäunen mit blau-grünem RWE -Aufdruck, die um fertige und halbfertige Industriehallen und um die Kraftwerksblöcke des Gaskraftwerks herumstehen. Dass Altes ab- und Neues aufgebaut wird – man kann es sozusagen live erleben hier im niedersächsischen Emsland.
Dieses Erlebnis wollte sich auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf seiner Reise durch Norddeutschland nicht entgehen lassen, die Symbolik für die Energiewende ist zu schön, und schließlich gibt es etwas zu feiern: Der Energieriese RWE nimmt an diesem Montag eine Pilotanlage zur Elektrolyse von Wasserstoff mithilfe von grünem Strom auf dem Gelände in Lingen in Betrieb.
Die Anlage wird über eine Kapazität von 14 Megawatt verfügen und kann bis zu 270 Kilogramm grünen Wasserstoffs je Stunde erzeugen. Das ist zwar für sich genommen nicht viel, doch RWE will vor allem Erfahrungen sammeln, die für künftige industrielle Großanlagen wertvoll sein könnten. Mit zwei verschiedenen Partnern, dem Dresdner Hersteller Sunfire und dem Gaseunternehmen Linde probiert der Energieriese zwei unterschiedliche technologische Verfahren nebeneinander aus. „Bevor man im Großen baut, muss man im Kleinen testen, sagte dazu RWE-Chef Markus Krebber. Denn über die Pilotanlage hinaus ist in Lingen in Sachen Wasserstoff Großes geplant. Hinter den blau-grün dekorierten Metallzäunen baut RWE mit Partnern an einer der größten Elektrolyseanlagen Europas. Wasserstoff-Erzeugungskapazitäten von 300 Megawatt sollen hier bis 2027 entstehen, 100 Megawatt davon sollen schon 2025 in Betrieb gehen.
„Wasserstoff, marsch!“
Habeck sprach zur Eröffnung mit Blick auf die Pilotanlage von einem „wichtigen Schritt hin zu einer klimaneutralen und nachhaltigen Wirtschaft in Deutschland“. Der Bund und die Länder arbeiteten dafür eng zusammen. Habeck sagte, er sei überzeugt, „dass Elektrolyseure wie hier am Standort in Lingen einen wichtigen Beitrag für das Gelingen der Energiewende leisten.“ Also – so viel Wortspiel musste sein – „Wasserstoff, marsch!“
In die Projekte fließt auch eine Menge Geld. In die neue Pilot-Elektrolyseanlage hat das Niedersächsische Umweltministerium acht Millionen Euro Fördergeld gepumpt, RWE selbst investiert nach eigener Aussage einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag. Für den Bau des 300-Megawatt-Elektrolyseurs haben der Bund und das Land Niedersachsen sogar Förderzusagen in Höhe von mehr als 490 Millionen Euro gegeben, RWE steckt noch einmal etwa genauso viel Geld hinein, wie ein Sprecher sagte. Insgesamt ist die Vision, dass Lingen eine Art Paradebeispiel für die grüne Energietransformation werden soll. Vom Kernkraftstandort zum Ausgangspunkt für eine neue Wasserstoffinfrastruktur. Oder wie Habeck es ausdrückt: Es gehe um den „Übergang von der notwendigen Vergangenheit zur Gestaltung der Zukunft“.
Viele offene Fragen
Doch mit Wasserstofferzeugung ist es nicht getan. In der so genannten Initiative GET H2 Nukleus haben sich die Unternehmen RWE, BP , Evonik und die Fernleitungsnetzbetreiber Nowega und OGE zusammengeschlossen. Denn ein Knackpunkt in der Debatte rund um Wasserstoff ist das Netz, also die Infrastruktur, um den erzeugten Wasserstoff weiterzuleiten. Das Projekt GET H2 Nukleus will auch hierzu beitragen und verbindet die Wasserstofferzeugung in Lingen mit industriellen Abnehmern in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Dafür ist eine rund 130 Kilometer lange Verbindung von Lingen bis Gelsenkirchen geplant – als Teil des „ersten Wasserstoffnetzes im regulierten Bereich mit diskriminierungsfreiem Zugang und transparenten Preisen“, werben die Beteiligten. Rund um die Regulierung des geplanten Wasserstoffkernnetzes in Deutschland sind allerdings noch viele Fragen offen. Insofern ist der Standort Lingen für RWE praktisch: Mit dem Gaskraftwerk, das hier direkt nebenan steht, gibt es schon einen Großabnehmer.
Wasserstoff gilt als ein Schlüssel in der Energiewende, auf ihm ruhen große Hoffnungen, weil er sauber verbrennt. Außerdem kann man ihn speichern und transportieren. Allerdings sind große Mengen Strom nötig, um in einem Elektrolyseur Wasser zu zerlegen und somit Wasserstoff zu gewinnen. Diesen Strom kann man konventionell erzeugen – oder eben aus Erneuerbaren Energien. Wird etwa Wind- oder Solarstrom für den Elektrolyseur genutzt, spricht man von „grünem“ Wasserstoff.
Zwei verschiedene Technologien
Im Detail werden in der neuen Pilotanlage in Lingen nun zwei verschiedene Technologien für die grüne Wasserstoffherstellung nebeneinander ausprobiert. Die erste ist die sogenannte Druck-Alkali-Elektrolyse (AEL), sie gilt als die etablierte Technologie. „AEL-Anlagen können großtechnisch angewendet werden und sind häufig für den Dauerbetrieb ausgelegt“, schreibt das Fraunhofer-Institut für Produkttechnik und Automatisierung (IPA) dazu. Sie hätten allerdings den Nachteil, dass sie aktuell weniger gut mit den Lastwechseln und der volatilen Dynamik von erneuerbaren Energieträgern zurechtkämen. Übersetzt heißt das: Es ist für die Technologie ein Problem, dass der Wind immer unterschiedlich stark weht und die Sonne mal scheint und es mal bewölkt ist.
RWE testet deshalb in Lingen auch noch ein alternatives Verfahren, die Protonen-Austausch-Membran-Elektrolyse, kurz PEM. Dieses Verfahren befinde sich bisher kaum im großtechnischen Einsatz und stehe erst am Anfang der Kommerzialisierung, lässt sich beim Fraunhofer IPA nachlesen. „PEM-Elektrolyseure besitzen eine gute Teillastfähigkeit und können mit hohen Stromdichten bei guten Wirkungsgraden betrieben werden“, heißt es dort weiter. Sie seien unempfindlich gegenüber Lastwechseln.
Der mit der Pilotanlage in Lingen erzeugte Wasserstoff soll erst einmal in kleinen Mengen dem Brennstoff für die Gasturbine eines der dortigen Kraftwerksblöcke beigemischt werden. Ab Mitte 2025 können auch wasserstoffbetriebene Fahrzeuge am Gaskraftwerk Emsland mit Wasserstoff aus der Pilotanlage betankt werden. Dafür haben schon Bauarbeiten für eine Wasserstoff-Tankstelle gemeinsam mit der Westfalen AG aus Münster begonnen.