Sie prägte als Prozessbeobachterin beim Eichmann-Prozess den „Banalität des Bösen“-Diskurs. Vor 50 Jahren starb Hannah Arendt. Zwei neue Biografien würdigen die große Denkerin
Die Entstehung autoritärer Systemen liegt für Hannah Arendt allem voran am gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsversagen
Foto: Fred Stein Archive/Getty Images
Heute hätte sie es schwer. Während man in der teils feindseligen Debattenkultur Vertreter:innen bestimmter Positionen nur allzu gern in diverse Schubladen packen will, hat sich die vor 50 Jahren gestorbene Hannah Arendt allen Etikettierungen entzogen – und damit schon zu ihrer Zeit für Aufsehen gesorgt. Kaum zu glauben: Eine Jüdin, die vor den Nazis fliehen musste, besucht einen der wichtigsten Nachkriegsprozesse, den gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann, und betreibt jenseits der üblichen Reden von Barbarei sozialpsychologische Ursachenforschung.
Sie stößt auf eine „erschreckende Normalität“ und bringt diese auf den Begriff der „Banalität des Bösen“. Wie keine andere erfasst sie damit die stumpfe Betriebsamkeit hinter dem industriellen Massenmord. Fortan kommt ihr die Rolle der Provokateurin zu, die den Mythos des Teuflischen hinter dem Tötungsapparat in Frage stellt. Und so scheut sie auch nicht davor zurück, zu zentralen Intellektuellen ihrer Epoche auf Distanz zu gehen.
Innige Liebesbeziehung mit Heidegger
Am schwersten wiegt für sie die Verstrickung Martin Heideggers in die NS-Ideologie, mit dem sie Mitte der 1920er eine kurze, aber innige Liebesbeziehung verband – eine Ambivalenz, die auch das philosophische Bewusstsein der 1906 geborenen Autorin kennzeichnet. Sieht man von ihrer Verklärung der antiken Polis und von deren prototypischer Demokratie ab, sind für sie keine Positionen in Stein gemeißelt. Sie bleibt offen, auch und gerade nachdem sie in New York ihr Exil gefunden und dort den Neubeginn gewagt hat.
Wie dies gelingen konnte, thematisiert Matthias Bormuth anschaulich in seinem Essay Von der Unheimlichkeit der Welt. Denken mit Hannah Arendt. Er zeigt die Journalistin und Autorin als dialogorientierte Analytikerin, die Streit und Debatte als produktives Movens begreift. Die Entstehung von autoritären Systemen liege für sie allem voran im gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsversagen begründet. „Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit“, betont sie in ihrer Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951).
Wendig und unvoreingenommen ist Arendt
Somit entkräftet sie das auch gegenwärtig populäre Argument, dass vornehmlich das wirtschaftliche Abgehängtsein mancher Schichten für das Erstarken der neuen Rechten ursächlich sei. Überhaupt überrascht Arendt immer wieder mit ihren Positionen, wodurch sie einen ganz eigenen Reflexionsstil entwickelt, der Korrekturen, bisweilen sogar Widersprüche zulässt. Wendig und unvoreingenommen ist sie, auch was den Blick auf Politik und Macht anbetrifft. Man würde es nur zu gut verstehen, wenn sie Letztere nach den staatlichen Gewalterfahrungen ihres Jahrhunderts mit höchster Skepsis betrachten würde. Doch ihr Urteil fällt anders aus.
Macht erweist sich für sie als auf Zeit vergebene Möglichkeit zum Guten, genauer: Mit ihr lässt sich Freiheit herstellen, und zwar nicht nur Freiheit von etwas, sondern (im Sinne ihres Ansatzes der„Vita activa“) gleichsam Freiheit zu etwas! Dass sie auf den engagierten Menschen setzt, hängt natürlich mit der Passivität all jener zusammen, die bei Hitlers Aufstieg wegsahen. Ihre persönliche Erfahrung verdichtet sich somit in ihrer Weltdeutung.
Insbesondere Grit Straßenbergers erhellende Biografie Die Denkerin. Hannah Arendt und ihr Jahrhundert geht dieser engen Verknüpfung von Leben und Werk nach. „Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört“, sagte sie einmal. Die Gewalt zu unterbinden, bedeutet daher, den Worten Raum zu geben. Bis zuletzt hat sie geschrieben, als unermüdliche Sucherin nach der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten.
Die Denkerin. Hannah Arendt und ihr Jahrhundert Grit Straßenberger C. H. Beck 2025, 528 S., 34 €
Von der Unheimlichkeit der Welt. Denken mit Hannah Arendt Matthias Bormuth Matthes & Seitz 2025, 174 S., 20 €