Philipp Schönthaler: Naturwissenschaft und Kunst nach sich ziehen so viel gemein

Philipp Schönthaler konfrontiert in „Seiten des Himmels“ mit einer neuen Sicht auf vertraute Wirklichkeit und untersucht die faszinierende Verbindung zwischen künstlerischer Fantasie und naturwissenschaftlichem Denken


Philipp Schönthalers „Seiten des Himmels“ ist eine Untersuchung der Verbindung von Fantasie und Naturwissenschaft

Foto: David Clode/Unsplash


Was haben künstlerische Fantasie und strenges naturwissenschaftlich-technisches Denken miteinander zu tun? Nicht viel, könnte man meinen – oder? Tatsächlich haben sich prominente Wissenschaftler im 20. Jahrhundert zumindest phasenweise auch künstlerisch hervorgetan: Wernher von Braun, Robert Oppenheimer, Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik, der Astronaut Buzz Aldrin und viele mehr.

Die technische Elite des Jahrhunderts war, mehr, als man zunächst meint, von ästhetischen Ausdrucks- und Erkenntnisweisen angezogen. Nehmen wir Frank J. Malina, der 1945 die erste US-amerikanische Höhenforschungsrakete entwickelte und seit 1953 als freischaffender Künstler arbeitete. „Nach konventionellen Anfängen“, weiß der Ich-Erzähler in Philipp Schönthalers Roman Seiten des Himmels, „hatte er schon bald in avantgardistischen Zirkeln verkehrt und sich einen Namen als Pionier kinetischer Lichtkunst gemacht. Im Jahr, als Armstrong und Aldrin auf dem Mond gelandet waren, hatte er eine internationale Kunstzeitschrift gegründet.“

Offenbar seien Kunst und Literatur der Ausdruck einer Suche nach etwas, was weder die Wissenschaft noch deren Welt diesen Forschern habe geben können. Doch was war es genau, was sie antrieb? Gab es Gemeinsamkeiten? Und gab es nicht vielleicht doch noch etwas, was die auf den ersten Blick so unterschiedlichen Tätigkeiten von Wissenschaftlern und Dichtern miteinander verband?

Um der Antwort auf solche Fragen näher zu kommen, lässt Schönthaler einen Wissenschaftsjournalisten auf eine Recherchereise gehen, die ihn an so exotische Orte wie ein atombombensicheres Archiv in Nevadas Mojave-Wüste, ins Silicon Valley oder an das geplünderte Frühstücksbuffet des Dichterwettbewerbs in Klagenfurt führt. Dabei zeigt sich, dass es durchaus Brücken und Übergänge zwischen dem Denken der den Fakten zugewandten Wissenschaftler und jenen Spekulationen gab, die man in den zur selben Zeit erschienenen Science-Fiction-Geschichten zu lesen bekam.

Fakt und Fiktion

So begriff der ausgezeichnete Mathematiker Norbert Wiener den Menschen in seinem Sachbuch Mensch und Menschmaschine als eine Nachricht, ein Muster, das entschlüsselt, als Botschaft codiert und über eine Telefonleitung geschickt werden könnte, um sie an einem anderen Ort zu rekonstruieren. Das war kein bloßes Gehirngespinst, sondern ein wissenschaftlich fundiertes Gedankenspiel. Der Vorgriff auf etwas, das noch nicht vorhanden war, aber einmal wirklich werden könnte, war Teil der Realität und konnte handfeste Folgen haben. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Wiener an einem Vorhersagegerät zum Abschuss feindlicher Flugzeuge, was ihn darauf brachte, die lineare Kausalität Newtons hinter sich zu lassen und stattdessen über zirkuläre Kausalitäten, positive und negative Rückkopplungsprozesse nachzudenken, mit denen Organismen und technische Systeme sich selbst zu regulieren verstanden.

Die klare Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion ist bei näherer Betrachtung vielleicht gar nicht so eindeutig, wie man zunächst meint. Schließlich waren Fiktionen immer Teil der Realität und standen mit dieser in einer Beziehung der Wechselwirkung. Offenbar gab es doch so etwas wie Gemeinsamkeiten, Brücken oder Scharniere zwischen den wissenschaftlichen und ästhetischen Pfaden der Erkenntnis. Wenn es um Eigenwerbung ging, betätigten sich die Tech-Pioniere des Silicon Valley gerne als Erzähler großer Geschichten. So war es Steve Jobs, wie Schönthalers Ich-Erzähler feststellt, bald gelungen, seine erste Wirkstätte – die berühmte Garage – in einen mythischen Ort zu verwandeln, zu dem bis heute zahllose inländische und ausländische Touristen pilgern, während die Werkstatt des deutschen Computerpioniers Konrad Zuse in Berlin-Kreuzberg nur einem überschaubaren Kreis von Eingeweihten etwas sagt.

Philipp Schönthaler ist ein herausragender Gedankenroman gelungen, der nicht zuletzt zeigt, wie wichtig ein radikaler Perspektivwechsel, die Veränderung des Beobachterstandpunkts, sein kann, um besser zu verstehen, was geschieht, wenn Menschen handeln oder denken. In diesem Fall, was Techniker und Naturwissenschaftler tun, wenn sie auf dem Feld ihrer angestammten Profession den wissenschaftlichen Fortschritt voranzutreiben versuchen. Wer darauf hofft, von einem Buch nicht nur gut unterhalten, sondern mit einer neuen Sicht auf die vertraute Wirklichkeit konfrontiert zu werden, sollte dieses unbedingt zur Hand nehmen.

Seiten des Himmels. A Novel in Parts Philipp Schönthaler Matthes & Seitz 2024, 319 S., 25 €

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