Der Begriff der Demokratie ist umkämpft. Die neuen Endzeitfaschisten rund um Peter Thiel, J.D. Vance und Curtis Yarvin in den USA deuten ihn in einer Weise um, die praktisch auf seine Eliminierung hinausläuft. Dabei bewegen sie sich, bewusst oder unbewusst, in den Bahnen des Staatstheoretikers Carl Schmitts, den man Hitlers Kronjuristen genannt hat. Schmitt wird auch in Peter Thiels Vorlesungen erwähnt. Das ist keine philosophische Spielerei, sondern ein Aspekt der Rechten, den man sich intensiver anschauen sollte. Auch, weil diese Denkweise in Deutschland teils noch deutlicher hervortritt als in den USA.
Rund um die „dunkle Aufklärung“ hören wir heute bei US-Ideologen eine Feinderklärung gegen die Gleichheit der Menschen. Wer gegen die Gleichheit ist, ist gegen die Demokratie, sollte man meinen. Aber so einfach ist die Sache eben nicht, wird sie jedenfalls nicht stehengelassen. Schon von den Nationalisten nicht, die binden ja demokratische Rechte an Nationzugehörigkeit. Aber aus dem Nationalismus geht der Faschismus hervor, so schon in den 1920er Jahren und heute wieder.
Damals wie heute gibt sich der Faschismus für die wahre Demokratie aus. Dieselbe Trump-Regierung, die in den USA die Pressefreiheit wie auch die Forschungsfreiheit der Universitäten bedroht, hat jetzt der EU als einer angeblich antidemokratischen Macht den Kalten Krieg erklärt. Sie zeigt ihr Gesicht, wenn sie den britischen Fernsehsender BBC durch eine Milliardenklage zu vernichten versucht. Wie kann ausgerechnet sie sich auf Demokratie berufen?
Über den Zusammenhang von Demokratie und Republik
Der faschistische Demokratiebegriff, schrieb ich schon über die „dunkle Aufklärung“, trennt die Demokratie von der Republik ab und reduziert sie dann noch auf die bloße Mehrheitsentscheidung. Das sind zwei Konfusionen.
Die Republik: Was ist das, und warum ist sie wichtig? Der Name sagt es: Res publica, die „öffentliche Sache“. Das ist also eine Sache, eine Maschine, könnte man fast sagen, und nicht bloß eine Willensbekundung. Eine Gesellschaft hält nicht durch Willensbekundungen zusammen, wenn es nicht auch Institutionen gibt, die – um es überspitzt zu sagen – dem Lustprinzip solcher Bekundungen ein Realitätsprinzip ergänzt, damit ihre Freiheit nicht in Unfreiheit umschlägt.
Es geht darum, dass in einer Massengesellschaft Demokratie als „Volksherrschaft“ nicht unmittelbar ausgeübt, sondern nur repräsentiert werden kann. Dann muss aber dafür gesorgt sein, dass die Repräsentanten sich nicht heimlich oder gar offen zu Herrschern über das Volk aufschwingen. Das soll die res publica mit ihrer Gewaltenteilung leisten. Von „checks and balances“ spricht man in den USA, das ist eine Maschinenmetapher und sie ist der Sache angemessen. Der demokratische Wille allein würde der Realität nicht standhalten.
Wie Demokratie in den USA gedacht war und angelegt wurde
Und was ist Demokratie für sich genommen? Wenn sie nur Mehrheitsentscheidung wäre, könnte sich der eine Teil des Volkes die Herrschaft über den anderen Teil anmaßen. Auch dieses Problem war den Schöpfern der US-Verfassung voll bewusst. Man kann es in den Federalist Papers nachlesen, einer Sammlung von Zeitungsartikeln, in denen sie seinerzeit (1787/1788) ihre Gedanken austauschten und klärten.
Die Verfassungsväter (!) gingen davon aus, dass in einer Volksherrschaft das ganze Volk herrscht, also auch seine Minderheit. Dennoch sollte die Mehrheit die Politik bestimmen. Die Mehrheit sollte immer neu ermittelt werden. Um beide Prinzipien zu vereinbaren, Herrschaft des ganzen Volkes und Herrschaft der Mehrheit des Volkes, forderten sie die Übereinstimmung aller, ob Mehrheit oder Minderheit, in den grundsätzlichsten Dingen. Man muss hier hinzufügen: Wenn nicht ständig in der Diskussion bleibt, welche das sind – was eine entsprechende politische Kultur erfordert –, ist so eine teils geschriebene, teils implizite Verfassung nicht funktionsfähig. Auf jeden Fall gehört sie selbst, die Verfassung, immer dazu.
Wenn das unser Verständnis von Republik und Demokratie ist, müssen wir sie gar nicht unterscheiden, denn wie man sieht, ist schon der Demokratie für sich genommen die „balance“ eingeschrieben, ohne die es sie nicht geben könnte. Die Republik fügt nur weitere Gleichgewichte hinzu.
Doch die Trump-Regierung versucht beide zu schleifen. So konnte die Art und Weise, wie der Supreme Court in die Hände sehr rechter „Republikaner“ fiel – man muss wahrlich den Namen dieser Partei in Gänsefüße setzen –, schon nicht mehr demokratisch genannt werden. Und was für Trump Demokratie ist, hat er zu verstehen gegeben, als er 2020 behauptete, der Wahlsieg Joe Bidens sei eine Fälschung. Darin steckte nämlich schon, dass Mehrheit nur Mehrheit ist, wenn ein gewisser Standpunkt es erlaubt, sie als solche anzuerkennen. Das offen auszusprechen, wagt noch keiner von Trumps Leuten. Doch man wartet schon darauf, dass es geschieht. Denn es steht schon sichtbar genug hinter allem, was sie tun.
Und nun zu Carl Schmitt: Als die Nazis um die Mehrheit kämpften
Carl Schmitt hat es ausgesprochen, in seinem Buch Verfassungslehre, das 1928 in erster Auflage erschien. Das Datum kann einem Angst machen, denn noch war nicht 1929, noch trieb keine Weltwirtschaftskrise den Nazis Wähler und Wählerinnen zu. Aber ein Jahr später würde sie kommen. Auch heute haben wir keine solche Krise, aber wie lange noch? Wenn sie gekommen sein wird, wie sehr erst wird dann die AfD erstarken? Und tut Trump nicht alles, um sie, die Krise, hervorzurufen? Ob absichtlich oder nicht, spielt gar keine Rolle. Protektionismus war auch vor 1929 ein oder der Hauptgrund dafür, dass die Weltwirtschaftskrise kam.
In der Auflage von 1954 erklärt Schmitt immer noch stolz: „Ein Werk, dem diese Systematik gelungen ist, braucht nicht in einen Wettlauf mit den zahlreichen Verfassungstexten einzutreten, die sich im Lauf der Zeit ergeben, solange eben der Typus Bestand hat.“ Er greift in diesem schon faschistischen Buch – obwohl das Wort „Faschismus“ nicht fällt – das Mehrheitsprinzip offen an, muss es aber zugleich auch anerkennen. Denn die Nazis sind 1928 noch dabei, auf dem parlamentarischen Weg um die Mehrheit zu kämpfen.
Es gelingt Schmitt, das Dilemma logisch zu lösen. Die Mehrheit rein für sich genommen, argumentiert er, ist bloß eine Quantität, und wenn Demokratie nur das wäre, stünde es schlecht um sie. Wie er zitieren kann, dachte Rousseau nicht anders: Dass eine Mehrheit korrupter Menschen über „anständige“ herrscht, wird niemand wollen. Deshalb müsse zur quantitativen Seite eine „substanzielle“ hinzukommen. Und es geschehe auch, so Schmitt. Er führt als Beispiel den „Protest des deutschen Volkes gegen die Auslieferung der sog. Kriegsverbrecher im Jahre 1920“ an. Da habe man eine Äußerung „des Volkswillens, die als solche nicht zu verkennen“ sei.
Volk, Bürgertum und Nation bei Carl Schmitt
Es muss also allererst erkannt werden, ob eine Mehrheit für eine solche Äußerung steht oder nicht. Wenn nicht, ist es nicht das Volk, das via Mehrheit herrscht. Stattdessen, so Schmitt, herrscht dann das „Bürgertum“. Dieses habe als demokratisch ein Wahlverfahren hingestellt, in dem jeder und jede ganz isoliert, nur privat also, in einer Wahlkabine abstimme; wenn dann die mehr oder minder zufälligen Ergebnisse zusammengezählt würden, könne man doch nicht sagen, „das“ Volk habe gesprochen.
Die Vorstellung, dass eine Wahl nur dann „Substanz“ habe, wenn ihr Ergebnis den Willen „des“ Volkes zeige – der Einheit also dieses Gebildes: einen nicht bloß mengenmäßig verstreuten, sondern einheitlichen Volkswillen –, verweist darauf, dass Schmitt ein ganz bestimmter Willensinhalt vorschwebt. Den hat er in jener Abstimmung von 1920 wiedererkannt. Es geht offenbar um Nationalismus. Eine Nation, die auf sich hält, lässt sich doch nicht einreden, sie bringe Kriegsverbrecher hervor. Hier kann das Volk, so Schmitt, „Freund und Feind unterscheiden“. Die „Substanz“ einer Mehrheit, in der das deutsche Volk spricht, ist dessen Nationalität. Das scheint sich ja auch von selbst zu verstehen, sind doch die Völker als Nationen verfasst.
„Man will sich nicht der Mehrheit unterwerfen, weil sie die Mehrheit ist, sondern weil die substanzielle Gleichartigkeit des Volkes so groß ist, dass aus der gleichen Substanz heraus Alle das Gleiche wollen.“ Das von Allen gewollte Gleiche ist die Nation.
Es steht ein Führer vor der Versammlung
Aber Schmitt setzt noch einen drauf: Eine Mehrheit, aus der das Volk spricht, kann nur als „Symptom“ des Volkswillens gelten. Denn wir sahen ja, die Mehrheit als solche ist substanzlos, weil bloß quantitativ, und spricht also für gar nichts. Deshalb ja bedarf es der Kundigen, wie Schmitt einer ist, die das Symptom zu deuten wissen. Und da zeigt sich, was überhaupt erst Demokratie wäre, wahre Demokratie: Sie äußert sich nicht in Symptomen, die von den einen richtig, von anderen aber falsch interpretiert werden, sondern ganz direkt.
Ihr ganz unzweideutiges Verfahren besteht laut Schmitt darin, dass das Volk sich als Volk versammelt und seinen Willen ganz einfach ausspricht. Das heißt, es steht ein Führer vor der Versammlung und diese „akklamiert“ entweder oder „murrt“. Wir lesen schließlich eine Definition des Demokratiebegriffs, die ganz ohne Mehrheiten auskommt – Definition eines Volkes, das gesund ist, statt sich, neurotisch gleichsam, in Symptomen äußern zu müssen: „Demokratie (als Staatsform wie als Regierungs- oder Gesetzgebungsform) ist Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden.“
Ein entscheidendes Wort ist hier gefallen: Identität. Wir werden ihm wiederbegegnen.
Beispiele für scheiternde Demokratien: Arabischer Frühling und Syrien
Vorher lösen wir die von Schmitt angerichtete Konfusion auf. Dass die bloße Mehrheit, weil rein quantitativ, noch kein demokratisches Prinzip ist, das stimmt. Demokratie muss in der Tat auch einen bestimmten Inhalt haben: eine inhaltliche Auffassung, in der sich das ganze Volk einig ist und wiedererkennt. Wenn es eine solche Auffassung nicht gibt, kann von Demokratie keine Rede sein.
Um die Wahrheit dieses Satzes einzusehen, braucht man sich nur zu erinnern, wie in Ägypten der „Arabische Frühling“ endete: Freie Wahlen führten zur Mehrheit der Muslimbruderschaft (deren palästinensischer Ableger die Hamas ist) und diese wollte, an die Regierung gelangt, die Scharia als Rechtssystem verbindlich machen. Dass daraufhin das ägyptische Militär die Macht (wieder) übernahm und die Muslimbruderschaft verbot, ist Ausdruck dessen, dass es in Ägypten eine starke säkulare Minderheit gibt, von deren Denken und Lebensweise zur Scharia keine Brücke führt. Es ist also das Beispiel einer Gesellschaft, die „in den grundsätzlichsten Dingen“, wie ich formuliert habe, zu keiner Übereinstimmung gelangt. Im heutigen Ägypten kann es eine Demokratie schlechterdings nicht geben.
In Syrien wird es heute ein weiteres Mal durchgespielt. Die Diktatur der Assad-Familie war Ausdruck dessen, dass die religiöse Minderheit der Aleviten, der sie angehörte, nur in dieser Staatsform glaubte überleben zu können. Ob sie recht oder unrecht hatte, muss sich erst noch erweisen, heute, wo frühere IS-Anhänger die Staatsmacht übernommen haben. Ob es der syrischen Gesellschaft gelingt, sich auf alle gemeinsamen Grundüberzeugungen zu einigen, und dem syrischen Staat, sich darauf einzulassen, ist eine offene Frage.
Was ist der Volkswille? Carl Schmitt vs. die Federalist Papers der USA
Aber damit ist Schmitts Argument dann auch erschöpft. Es kann nicht begründen, weshalb es besser sein soll, Mehrheiten gar nicht erst zu ermitteln, es kann auch Schmitts Behauptung nicht begründen, Mehrheiten seien zwar prinzipiell abzulehnen, bestimmte Mehrheiten könne man aber von der Ablehnung ausnehmen, weil sie „Symptome“ des Volkswillens seien.
In dieser Behauptung unterstellt Schmitt erstens, er wisse besser als das Volk selber, was der Volkswille sei, und zweitens, der Volkswille sei in allen politischen Belangen immer ein und derselbe. Denn wenn das nicht so wäre, käme es ja eben zu Mehrheiten und Minderheiten. Schmitts Definition der wahren Demokratie, wonach das ganze Volk eine politische Entscheidung entweder ablehnt oder ihm in derselben Ganzheit zustimmt, ist kontrafaktisch. Diese Vorstellung ist es aber, die sich in der von ihm evozierten Vorstellung einer akklamierenden oder murrenden Volksversammlung äußert.
Im Vergleich mit den Gedanken der Federalist Papers erweist sich die Haltlosigkeit der Schmittschen Argumentation. Denn was an dieser richtig ist, ist auch in jenen enthalten, und doch ist die Schlussfolgerung anders und plausibler.
Auch die Federalist Papers fordern die Übereinstimmung des ganzen Volkes, aber eben nicht in allem, was politisch ist, sondern nur im Grundsätzlichen. Was als grundsätzlich anzusehen sei, muss das Volk selber bestimmen, statt dass ein Carl Schmitt oder wer auch immer es tut. Wenn es geschehen ist, kann das Volk ansonsten Mehrheiten bilden. Solche Mehrheiten sind nicht „symptomatisch“ für das Grundsätzliche – als wäre dieses verdrängt und kämpfte sich nun trotzdem, gegen eine Zensurinstanz, zur Oberfläche der politischen Sichtbarkeit durch –, sondern drücken es unmittelbar aus.
Die Versammlung der Nazis übt Zwang aus – auf die Minderheit
Warum ist diese Schlussfolgerung der Schmittschen überlegen? Weil Schmitt, ohne es auszusprechen, auf Zwang setzt. Wenn das Volk zu seiner vollkommenen Übereinstimmung in Freiheit gelangt, warum sollte es sich nicht in einer freien Abstimmung äußern? Die Antwort ist, dass die Forderung, es müsse sich stattdessen versammeln, anno 1928 nicht mehr unschuldig ist. Denn keinen Leser, keine Leserin konnte es mehr geben, die nicht gewusst hätten, dass man sich mit Protest gegen die NS-Parolen der Versammelten in Lebensgefahr bringt.
Die Versammlung zwingt alle Einzelnen, die sie bilden. Darum geht es. Und es war allgemein bekannt. Auch Bücher, die man noch heute kennt, beleuchteten das Phänomen der „Masse“. Schmitt spricht es nicht aus, aber man sollte nicht glauben, er habe es verbergen wollen; richtiger ist wohl, dass seine Verfassungslehre in brutalen Andeutungen spricht.
Es ist nicht nur die Andeutung, dass eine überwältigende Mehrheit von Teilnehmern der Versammlung „des Volkes“ die Minderheit in ihr selber einschüchtert und verstummen lässt, sondern auch schon die, dass die Einschüchterung von dem Einen ausgehen kann, der vor der Versammlung steht. Denn mit ihm ja soll die Versammlung, Schmitts Demokratie-Definition zufolge, „identisch“ sein.
Kleiner Logik-Exkurs: Wie eine Versammlung mit ihrem Führer identisch sein soll
Wenn A, die Versammlung, mit B, ihrem Führer, „identisch“ ist, kann das zum einen heißen, B ist mit A, aber auch zum andern, A ist mit B identisch. Es kann also, mathematisch gesprochen, zu „(A) 1 + 9 = (B) 10“ von daher kommen, dass zuerst A die Zahlen setzt und B sich ihnen anpassen muss: „(A) 1 + 9 = (B) …“. Es kann aber auch umgekehrt zu „(A) … = (B) 10“ kommen. Und nur im zweiten Fall ist sichergestellt, dass A und B wirklich „identisch“ werden. Das ist die offen faschistische Variante.
Erstes Grundproblem in Carl Schmitts Denken: Die Nation
Von der Konfusion haben wir schon gesprochen: Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass ein Volk eine Nation sei. Entweder „Titularnation“ einer staatlich verfassten Gesellschaft oder „nationale Minderheit“ in ihr. Wenn man nur allein diese Annahme unterstellt, ergibt sich schon, dass Schmitt glaubt wissen zu können, dass das grundsätzlichste Ding, in dem ein Volk mit sich selbst übereinstimmt, sein nationales, das heißt im gegebenen Fall deutschnationales Selbstverständnis sei.
Jedenfalls ist das offenbar seine Auffassung, die er zugrunde legt, wenn er urteilt, nur bestimmte Mehrheiten seien solche des Volkes, während vor anderen, obwohl vom Volk abgestimmt, das Volk geschützt werden müsse. Er unterstellt damit auch, dass es Quantitäten geben könne, hier solche des Abstimmens, die nicht solche von Qualitäten sind, sondern gleichsam in der Luft hängen.
Schmitt weiß offenbar, dass das gegebene deutsche Volk gerade nicht mehr in Gänze national sich versteht. Das ist der springende Punkt. Denn wenn das ganze Volk sich national verstünde, würde es des Zwangs, der von der versammelten Masse ausgeht, während er von der Abstimmung in Wahlkabinen nicht ausgeht, ja gar nicht bedürfen.
Kommunismus, Migration, westlicher Lifestyle: Dagegen kämpfen die Nationalisten
Es ist anno 1928, dem Jahr, in dem Schmitts Verfassungslehre erscheint, jedermann bekannt, dass nicht mehr alle Deutschen sich national definieren. Die Kommunisten tragen diesen Abschied offen zur Schau, aber auch für die Menschen, die sich im „Babylon“ Berlin vergnügen, trifft es ersichtlich zu, auch wenn sie selbst darüber nicht nachdenken. Dafür sehen die Nationalisten klar, und es stimmt auch, dass sie eher pariserisch, „westlich“ denken und leben, als dass sie national gestimmt wären.
Und dann gibt es da noch die Juden. Sie sind Deutsche, aber das streiten die Nationalisten ab. Die Juden und Jüdinnen eignen sich als Sündenböcke dafür, dass sich das Selbstverständnis des Volkes, Nation zu sein, aufzulösen beginnt. Wie sich heute die Migranten und Migrantinnen dafür eignen.
Weil die Nation angesichts des Kommunismus und des westlichen Lifestyles aufgehört hat, „das“ Selbstverständnis des deutschen Volkes zu sein, gehen die Nationalisten dazu über, dieses nationale Selbstverständnis erzwingen zu wollen. Wie gesehen, muss die Zwangsabsicht Schmitt voll bewusst gewesen sein.
Erstes Grundproblem in Carl Schmitts Denken: Herrschen in der Demokratie Menschen oder herrschen Gesetze?
Womit wir zu seiner zweiten Konfusion kommen: dass Carl Schmitt ohne Weiteres unterstellt, Herrschaft des Volkes, „Demokratie“, müsse Herrschaft von Menschen sein. Es ist ja wahr, das Volk besteht aus Menschen, und im antiken Athen, auf das Schmitt sich beruft, wurde auch tatsächlich die Herrschaft von den Menschen, die sich versammelten, ausgeübt.
Bei der Größe heutiger Völker ist das aber nicht mehr möglich. Wenn man dann, wie Schmitt, beim Prinzip der Menschen-Herrschaft bleibt, muss man tatsächlich unterstellen, dass eine Gruppe von Herrschenden, oder ein einziger Mensch, der als „Duce“ oder „Führer“ herrscht, mit all den Menschen, die das ganze Volk bilden, „identisch“ sei. Aber warum diskutiert Schmitt nicht das tradierte Verständnis dessen, was Demokratie in einer Massengesellschaft ausmacht, dass nämlich nicht Menschen herrschen, weder alle noch einige noch ein einziger Mensch, sondern die Gesetze? An deren Beschließung alle teilgenommen haben?
Die Antwort ist klar: weil er nicht sicher sein kann, dass das Volk auf absehbare Zeit nicht etwa dahin gelangt, Gesetze zu beschließen, die keinen nationalen Charakter mehr hätten. Vielmehr menschlichen Charakter. Gesetze, wie ein Immanuel Kant sie vorausdachte: Wenn sein „kategorischer Imperativ“ verlangt, dass jeder Mensch so handle – also auch gegebenenfalls so abstimme –, dass die Handlung jeweils zu einem Gesetz verallgemeinert werden könnte, das „allgemein“ zustimmungsfähig wäre, so hat er in den hier zur Rede stehenden „allen“ offenbar nicht alle Nationzugehörigen im Blick, sondern alle Menschen. Wie er ja ausdrücklich sagt, es trage jeder einzelne Mensch „die Menschheit in seiner Person“.
Schmitt geht mit dem Begriff des Gesetzes so um wie mit dem der Mehrheit: Dieser Begriff habe als solcher keinen Inhalt, unterscheide nicht zwischen „grundlegenden“ und irgendwelchen anderen Gesetzen. Nur solche Gesetze sollen herrschen, die „grundlegend“ sind oder ableitbar von der Grundlage, und Grundlage soll eben nicht eine Menschheit sein, die sich nur aus praktischen Gründen in Völker unterteilt, sondern die mit sich und denen, die vor ihrer „Versammlung“ stehen, „identische“ Nation.
Nationales Denken in der Identitären Bewegung
In den vergangenen Jahren gab es die „identitäre Bewegung“. Sie grenzt sich vom Nationalsozialismus vollkommen ab, nur die Nation ist ihr wichtig. Aber sie sieht, dass die Nation bedroht ist, deshalb allein gibt es diese Bewegung. Gegründet wurde sie 2012 in Frankreich, und was in ihrem Gründungsmanifest steht, wurde in anderen Ländern, so auch in Deutschland, übernommen. Ich zitiere:
„Wir sind die Generation der ethnischen Spaltung, des totalen Scheiterns des Zusammenlebens und der erzwungenen Mischung der Rassen. Wir sind die doppelt bestrafte Generation: Dazu verdammt, in ein Sozialsystem einzuzahlen, das so großzügig zu Fremden ist, dass es für die eigenen Leute nicht mehr reicht. Unsere Generation ist das Opfer der 68er, die sich selbst befreien wollten von Tradition, von Wissen und autoritärer Erziehung. Aber sie haben es nur geschafft, sich von ihrer Verantwortung zu befreien. Wir lehnen unsere Geschichtsbücher ab, um unsere Erinnerung wiederzugewinnen. Wir glauben nicht mehr, dass ‚Khader‘ unser Bruder sein kann, wir haben aufgehört, an ein ‚Globales Dorf‘ und die ‚Familie aller Menschen‘ zu glauben. Wir haben entdeckt, dass wir Wurzeln und Vorfahren und darum auch eine Zukunft haben. Unser Erbe ist unser Land, unser Blut, unsere Identität.“
Die Überschrift lautet: „Von der ‚Generation der nationalen Identität‘ – Eine Kriegserklärung“. So eindeutig ablehnend die Passagen klingen, die hier und auch in entsprechenden deutschen Versionen vom Nationalsozialismus handeln, fragt man sich doch, warum die Wörter „Identität“, „identitär“ eine so herausragende Rolle spielen.
Die heutige Ablehnung des Nationalsozialismus: Was ist eine Identität?
Ich will zunächst die eindeutige Ablehnung des NS zitieren, wie sie die Identitäre Bewegung Deutschlands formuliert:
„Für einen bewussten Umgang mit unserer Geschichte, jenseits von Glorifizierung, oder Verdammung. Für einen gesunden Patriotismus und ein harmonisches Verhältnis mit anderen Völkern. / Gegen Antisemitismus und für eine Normalisierung und Heilung der Beziehungen zum jüdischen Volk. Für die ethnokulturelle Identität, als dynamische Synthese aus ethnischem und kulturellem Erbe. / Für die direkte Demokratie, Meinungsvielfalt, und die Freiheit des Einzelnen im Rahmen seiner Gemeinschaft.“
Aber warum ist die „Identität“ so wichtig? Das Wort für sich genommen ist ja vollkommen harmlos. Mehr noch, es ist nichtssagend. Aber gerade deshalb muss auffallen, dass gerade die „Identität“ als Marke der Erkennung gesetzt wird. Der Wiedererkennung? Nichtssagend ist auch etwa, wenn man sie kontextlos betrachtet, die Wendung „Alles für Deutschland“, die Björn Höcke von der Thüringer AfD gebraucht hat. Aber Höcke wurde für sie verurteilt, weil sie eine NS-Formel gewesen ist. Und von dem Wort „Identität“ wissen wir nun eben, welche Rolle es in Carl Schmitts Verfassungslehre spielt.
Das nationale Selbstverständnis der AfD
Die AfD stellt sich, so auch in ihrem letzten Bundestagswahlprogramm, als eine gewöhnliche Partei des nationalen Selbstverständnisses dar. Bekannt ist aber die wechselseitige Nähe von AfD und Identitärer Bewegung. Bekannt ist auch Höckes eigene Kriegserklärung, nachzulesen in seinem Buch Nie zweimal in denselben Fluss (2018):
„Die Entladung des aufgestauten Drucks wird irgendwann kommen, die geballten Fäuste werden dann in die Luft gerissen und das Volk […] an den Festungstoren der Machthaber rütteln. Neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Außengrenzen wird ein groß angelegtes Remigrations-Projekt notwendig sein. Und bei dem wird man, so fürchte ich, nicht um eine Politik der ‚wohltemperierten Grausamkeit‘ herumkommen.“
Bekannt ist auch die sich verstärkende Zusammenarbeit der AfD mit den Trump-Leuten in den USA. Diese, um es noch einmal zu sagen, können sich noch immer demokratisch geben. Schließlich hat Trump die letzte Wahl gewonnen. Aber er hat vorher gesagt, nur wenn er sie gewinne, erkenne er sie an. Was diese Figur bedeutet, habe ich mit dem Rückgriff auf Carl Schmitt zu erklären versucht.