Peter Handke: „So war ich damals“

Konzentriert schaut Peter Handke auf die große Leinwand, auf
der er sich selbst lesen kann. Klare Schriftzüge des damals Mittdreißigers, Notizen in Blau, Schwarz oder Rot, gut lesbar, manchmal angereichert mit kleinen fantastischen Zeichnungen oder Kritzeleien. Handkes Frau, die Schauspielerin Sophie Semin, liest derweil
parallel auf dem Podium, was da so gut zu entziffern ist. Mit ihrem
französischen Akzent verwandelt sie den geschriebenen jungen Kärntner Handke von
1978 in diesem Moment noch einmal. Vorher hatte sie ihrem mittlerweile 81-jährigen Mann den Nacken
gestreichelt, wenn ihn die Seltsamkeit des Augenblicks anzufliegen schien.

Die Verwandlungen eines Literaturnobelpreisträgers, live
mitzuerleben in der Berliner Akademie der Wissenschaften am gestrigen Dienstagabend, für
den Handke mit seiner Frau aus Paris eingeflogen ist. So ganz geheuer ist ihm
die Sache offenbar nicht. Sie ist ja auch ungeheuerlich, ein sehr spezieller
Ausflug des älter Gewordenen in die eigene Vergangenheit: Immer hat Handke nämlich
ein Notizbuch dabei – und von den ungefähr 300 Exemplaren, die der
Schriftsteller bisher geführt hat, sollen 75 aus den Jahren 1976 bis 1990
digital ediert werden. Die ersten 21, von 1976 bis 1979, sind jetzt für jeden
online zugänglich, 2989 Seiten
.
Und ab dem kommenden Jahr folgen gleich die nächsten 26 Hefte, 3967 Seiten. 

Das
Notizbuch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Einigermaßen
monströs und einschüchternd, was da vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach
und der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien gemeinsam in den digitalen
Raum katapultiert wird. Handke total, jetzt perfekt recherchierbar für
Forschung und Fans weltweit. Und es ist ein seltsam passender Zufall, dass in
anderthalb Wochen auch die – allerdings völlig andersgearteten – kompletten Aufzeichnungen von Handkes jahrzehntelangem Verleger Siegfried Unseld online gehen (in denen der
Autor Handke natürlich ständig vorkommt).
Die Faszination des Rückblicks herrscht offensichtlich überall.

Beim Handke-Hochleistungseditionssport bleibt allerdings die
Aura des Originals präsent, verwandelt auf dem Bildschirm: Seite um Seite mit
Handkes Schrift wird reproduziert, man kann parallel lesen. Das arme, treue
Notizbuch, in dem dieser Abend wie immer leider viel zu krakelig festgehalten
wird, schaut einen bei so viel Pracht und Fürsorge gleich ganz vorwurfsvoll und
neidisch an.

Ein „seltsamer Enthusiasmus“

Handkes originale Notizbücher sind dabei echte,
hochindividuelle Kunstobjekte: bunt, wild, gebraucht, von groß bis klein, alle
Formate, Formen und Farben dabei, Schrift und Bild miteinander verwoben, auch schon
mal mit recht kitschigen Blumen auf dem Einband. Das macht solch eine digitale
Verwandlung für den problemlosen, massenhaften Zugriff vielleicht noch etwas eigentümlicher. 

Doch Handke, dem die vielen Funktionen der Online-Edition an diesem Abend
erstmals vorgeführt werden, nimmt es gelassen, dieses Klassikerschicksal der
eigenen Erforschbarkeit. Er selbst hat in den vergangenen Jahrzehnten viele
gedruckte Bücher aus diesen Notizheften destilliert; seine Journale sind längst
Teil des Werks. Jetzt aber kann, wer will, seine Notizen ungekürzt lesen.

Aber was steht denn nun drin? „Es war mir nie im Sinn, ein
zeitgenössisches Journal zu schreiben“, erklärte Handke schon vor vielen Jahren
in einem ZEIT-Interview.
Also notiert er nichts über aktuelle Ereignisse oder Erlebnisse, sondern etwas
ganz anderes: das, was er um sich herum sieht, fühlt und manchmal liest, in Handke-typischer Beschreibungsintensität. Dieses Gesehene wird dann zum
Grundstock seiner Prosa. 

Also nichts für Literaturbetriebsvoyeure, keine
vertratschten Enthüllungen über Kollegen, kein politisches Herumgemeine, sondern
dafür ein unvergessliches Wetterleuchten am Himmel oder das genau geschilderte Kuppelfresko
in einer Kirche. „Geschriebenes Gestammel“ nennt Handke an diesem Berliner
Abend jene geschwungene Schrift aus dem Jahr 1978 und freut sich an seinem
„seltsamen Enthusiasmus“, die Welt zu beschreiben: „So war ich damals“.

Lässig elegant sitzt Handke jetzt auf dem Podium, im dunklen Anzug und
weißen Hemd, mit immer noch wehender Mähne. „Dante in Venedig?“: So hatte ihn
sein Verleger Unseld gesehen, als er Handke 1989 zufällig am Pool eines
venezianischen Hotels mit Walkman und im Bademantel traf. 

Die Rolle
Dichterfürst beherrscht Handke jedenfalls auch im Alter noch perfekt. Als milder
Souverän beantwortet er nicht allzu mürrisch die Fragen seiner drei
Editoren Katharina Pektor, Ulrich von Bülow und Bernhard Fetz zu seiner Umbruchzeit
1978, als er kurz vor seiner großen Reise nach Alaska stand, und der anschließenden
Krise, aus der das Buch Langsame Heimkehr erwuchs. 

Das Wort „beschreiben“ ist
Handke suspekt für das eigene Notieren: „Es hat mich so angeflogen“. Und er
schätzt die Chancen dieses Verfahrens: „Der Beobachter ist frei vom Fall des
eigenen Ichs“ – er nimmt sich selbst heraus aus seiner Umgebung, die er
beschreibt. Und gibt lächelnd zu: „Es ist eine Art Sport, da zuzuschauen.“
Diesen Sport hat er jahrzehntelang erfolgreich betrieben. Er hat ihn bis zum
Nobelpreis gebracht.

Und wo bleibt das Politische? „Ab und zu kommt Tito vor!“,
wagt sich Herausgeber von Bülow mit dem jugoslawischen Ex-Diktator vor, was
Jugoslawien-Nostalgiker Handke sofort mit einem launigen „Ach komm, lass uns
lieber trinken gehen“ quittiert. Bevor das passiert, holt er allerdings noch
zum Erstaunen aller sein aktuelles kleines Notizbuch hervor und fängt an zu
suchen. Unter dem 28. August („Goethes Geburtstag!“) findet er schließlich ein notiertes Gedicht – Der Abend Joseph von Eichendorffs – und liest es leise
tastend vor: „Schweigt der Menschen laute Lust: / Rauscht die Erde wie in
Träumen / Wunderbar mit allen Bäumen, / Was dem Herzen kaum bewußt, / Alte
Zeiten, linde Trauer, / Und es schweifen leise Schauer / Wetterleuchtend durch
die Brust.“ Da war er, dieser typische Handke-Moment: cool nebenbei, aber effektvoll
leuchtend unter Berliner Vollmondlicht.

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