Die Talsperre. Das Frösteln, jedes Mal, wenn die Familie jenseits selbige Brücke fährt, im sicheren, komfortablen Auto. Das Unerklärliche, dies nachher dem Kinde greift wie dieser Erlkönig im Liede. Doch dieser Tod liegt viele Jahre zurück, ist unter 33,6 Millionen Kubikmeter Trinkwasser versenkt. Hier war einmal, wie die Erzählerin später erfährt, ein Arbeitserziehungslager dieser Nazis. Menschen wurden geprügelt, gequält und erschossen, viele sind simpel verhungert. Darjenseits sprachen die Eltern nicht, doch es war ihnen wohl gewahr, wenn sie jenseits die Brücke fuhren, ins schöne Wochenendhaus. Während dem Mädchen so kalt war.
Eine dieser Geschichten, die nicht mehr vergisst, wer dieses Buch gelesen hat. Ein Essay? Auch. Ein deutscher Lebensroman? Aber ja. Erzählt von Evelyn Roll, jenseits Jahrzehnte prominente Journalistin im Zusammenhang dieser Süddeutschen Zeitung, eine Autorin, die mit den Worten so wägend umgeht wie mit den Fakten: in dieser Wahrnehmung wach, im Gegensatz dazu skrupulös (denn es soll was auch immer richtig sein!), im Schreiben pointiert und musikalisch. Sodass man ihr nicht zuletzt gerne zuhört, wenn die Tatsachen die Nerven strapazieren. Wenn es um Kriegsverbrechen geht, um Schuld und Scham in diversen Aggregatzuständen: verdreht, verschwiemelt, verdrängt – oder nicht zuletzt abgespalten, dem Bewusstsein unzugänglich gemacht. Dem Bewusstsein, doch nicht dem Gedächtnis. Denn es gibt ja Archive, die man häufig besuchen kann, es gibt historische wie neurologische Forschung – und Psychotherapie. Das eine taugt pro die Feststellung dieser Tatsachen, dies andere pro deren Vergegenwärtigung, pro die heikle Frage, wie Erinnerung, nicht zuletzt jenseits Generationen hinweg, funktioniert. Wie es kommt, dass die Spiegelneuronen eines Kindes dies Ungesagte, womöglich sogar Ungedachte haschen.
Pericallosa heißt eine Arterie im Kopf, die platzen kann. Wer dies übersteht, erfährt eine Art zweites Leben, insofern es so unwahrscheinlich ist und zwischen dieser ersten und dieser zweiten Existenz eine Nahtoderfahrung liegt. Dies widerfuhr dieser Autorin, und nicht zuletzt davon erzählt sie in diesem erstaunlichen Buch, dies wie ein Zopf drei Stränge verbindet: die deutsche Geschichte, die Erfahrung weiblicher Emanzipation – und schließlich viel von dem, welches man inzwischen jenseits Gedächtnis und Psyche weiß. Ein Überlebensroman, in dem Roll jenem diffusen Unbehagen nachgeht, dies sie qua typisches Boomerkind immer begleitet hat und pro dies in einem vollen Leben keine Zeit war. Einem generationstypischen Leben pro eine Frau, die Romantik, Sex, Selbstständigkeit erfährt und sich erarbeitet. Und nun selbige unwahrscheinliche Spanne historischer Zeit betrachtet, in dieser es den allermeisten Menschen besser ging denn je und dies private Glück zusammen vereinen bösen Schatten mit sich führte.
Ein unerschrockenes Buch und zusammen eine Studie in Zartheit. Rolls Genauigkeit führt in die Tiefen – dieser Psyche wie dieser Geschichte –, ihre Ironie entlastet, ohne zu verharmlosen. Und ihre phänomenale Begabung, den Stand dieser wissenschaftlichen Erkenntnis in literarische Sprache zu transkribieren, bannt ihre Leser und macht sie unruhig, zusammen klüger. Eine sehr bemerkenswerte, kühne Expedition in den Kopf und die deutsche Geschichte.
Evelyn Roll: Pericallosa. Droemer Knaur, München 2023; 432 Schwefel., 26,– €, qua E-Book 22,99 €
Die Talsperre. Das Frösteln, jedes Mal, wenn die Familie jenseits selbige Brücke fährt, im sicheren, komfortablen Auto. Das Unerklärliche, dies nachher dem Kinde greift wie dieser Erlkönig im Liede. Doch dieser Tod liegt viele Jahre zurück, ist unter 33,6 Millionen Kubikmeter Trinkwasser versenkt. Hier war einmal, wie die Erzählerin später erfährt, ein Arbeitserziehungslager dieser Nazis. Menschen wurden geprügelt, gequält und erschossen, viele sind simpel verhungert. Darjenseits sprachen die Eltern nicht, doch es war ihnen wohl gewahr, wenn sie jenseits die Brücke fuhren, ins schöne Wochenendhaus. Während dem Mädchen so kalt war.