„Outline“ von Michèle Fischels: Erste Male, letzte Male

Andreas liebt Ben, Ben liebt Clara, Clara liebt Ben. Eine Jungsfreundschaft, die für den einen längst mehr ist als das, eine erste Beziehung, die alles sprengt, und dann kommt noch das Abitur. Das ist, ganz grob, der Umriss der Geschichte, die diese Graphic Novel erzählt, und Outline – Umriss, Skizze, Entwurf – lautet auch ihr Titel.

Er könnte nicht besser gewählt sein. Skizzenhaft wirken die Bilder, und voll vager Entwürfe, Selbstentwürfe, Zukunftsentwürfe ist die Zeit, die sie einfangen – einen Moment, in dem das Leben noch keine festen Umrisse hat, aber unweigerlich zu Entscheidungen drängt. Die Zukunft klopft an, sie klingelt Sturm: Mach was draus, mach was aus dir, mach was aus deinem Leben!

Vorerst jedoch ist die Welt ein Schwebezustand, der köstlich ist und angsteinflößend zugleich, denn alle wissen: Er kann nicht ewig dauern. Das Erwachsenwerden, das spürt man von der ersten Seite dieses Comics an, ist eben nicht nur eine Zeit der ersten, sondern auch der letzten Male. Zum letzten Mal Völkerball-Teamwahl in Sport, zum letzten Mal auf Klassenfahrt, zum letzten Mal mit allen feiern und zu viel Tequila trinken.

Aber ach, mag man denken, das hatten wir doch schon, eine Coming-of-Age-Story (mit einem Coming-out nebenbei), eine Dreiecksgeschichte unter Heranwachsenden. Die Illustratorin Michèle Fischels aber erzählt sie so mitreißend, so hinreißend und unbefangen, als hätte es noch niemand vor ihr getan.

Outline ist Fischels’ Debüt, ihre Abschlussarbeit im Designstudiengang der Fachhochschule Münster, und es ist bemerkenswert, wie selbstbewusst Fischels Text und Bild verschränkt. Auf eine Erzählstimme verzichtet sie ganz (auch Eltern kommen in diesem Buch über das Aufwachsen nicht vor, Lehrer nur am Rande). Fast alles, was es zu erläutern, zu kommentieren gäbe und was es an Innenschau braucht, schildert Fischels grafisch; darüber hinaus genügt ihr die Figurenrede. Und auch die ist knapp gehalten. Es findet sich kein einziger gestelzter Dialog, die Sprechblasen sind frei von verkrampften Erklärsätzen. Alles ist dem Alltag abgelauscht: die Frotzeleien in Bens Schülerband („Warum bist du kein Mädchen, du Blödmann?!“), die Gespräche von Claras Freundinnen übers Kinderkriegen („Meinte mein Fahrlehrer letztens ernsthaft: ‚Wenn de nich weißt, was de studieren sollst, krieg doch einfach ’n Kind, dann hat sich das, ähöhöhö.'“), die Mahnpredigt an Andreas (Lehrerin: „Sie wirken ’n bisschen arrogant.“ – Er, bei sich: „Sie wirken ’n bisschen dumm.“). Fischels wirft es uns hin, in schnellen, ausschnitthaften Szenen. Über 200 Seiten fügen sie sich mühelos zu einer Geschichte, die am Ende, wie könnte es anders sein, in alle Richtungen hin offen bleibt.

Andreas, Ben und Clara: Freunde fürs Leben?

Dass Fischels oft mehr andeutet, als auszumalen, ist auch eine Einladung, sich selbst lesend und betrachtend in diesen gezeichneten Kurzroman hineinzuspiegeln. Die Charaktere bieten sich, weit davon entfernt, nur Typen zu sein, im besten Sinne zur Projektion an. Die Einsamkeit des obercool verzweifelten Andreas, der welpenhafte Ben und seine zielstrebige Freundin Clara, die sich fragen, ob ihre Schülerliebe über das Abi hinaus zu retten ist, dazu der Lern- und Prüfungsdruck. Glaubhaft, zart, aber völlig unkitschig setzt Fischels die Ängste, die Freuden und das Begehren ihrer Protagonisten ins Bild; mit leichter Hand zeichnet sie das Leben auf der Schwelle jenes sonderbaren letzten Schuljahres, in dem alles unter höchster Anspannung steht und zugleich schon in Auflösung befindlich ist.

Wie macht sie das?

Am Anfang, erklärt Fischels auf Nachfrage, standen Bleistiftskizzen. Die weiteren Schritte ging sie digital, wobei sie die frei fließenden Linien auch in der Reinzeichnung erhielt. Es folgten die Farbflächen, aufgeraut durch Schraffuren, die denselben Effekt erzielen: den fertigen Bildern den Charakter des Spontanen und Improvisierten zu verleihen. Sie strebe nach Mühelosigkeit – in der Wirkung, nicht auf dem Weg dorthin. Zugleich sei sie inspiriert von den Comics der ligne claire, der klaren Linie: „Abstrahierende, lockere Stile inspirieren mich, und ich mag die Kunst des Weglassens.“

Fischels beherrscht sie vortrefflich, im Erzählen wie in der Komposition der Panels und Seiten. Die Freiräume, in denen sich ihre Figuren bewegen, intensivieren die Stimmung. Auf ihren Bildern sieht man das Licht zwischen Blättern und Ästen flimmern oder auf dem Boden und den Wänden tanzen; sie wirken so bewegt und manchmal aufgewühlt wie die Seelen ihrer jugendlichen Heldinnen und Helden. Dazwischen lässt Fischels immer wieder Details aufblitzen – Hände, Haare, Füße, leere Stühle im Klassenraum. Dass sie den Jugendstil-Illustrator Kay Nielsen und die Porträts Egon Schieles mag, überrascht nicht, wenn man ihren Bildsequenzen folgt, wobei man sich zur Langsamkeit ermahnen muss, um sie nicht allzu hastig wegzublättern, so dynamisch sind sie, und so flink ist Fischels’ Erzählduktus.

Ihr eigener Schulabschluss liege mehr als zehn Jahre zurück, erzählt sie, aber in der Rückschau fühle es sich gar nicht so fern an. Wäre es anders, womöglich wäre ihr dieses Buch nicht gelungen. So aber stellt sich bei ihren Leserinnen und Betrachtern derselbe Eindruck ein: Die Zeit rund um das Abitur, egal ob es gestern war oder vor Jahrzehnten – mit Outline in den Händen rückt sie noch einmal ganz, ganz nah.

Michèle Fischels: Outline. Reprodukt 2024; 208 S., 24,– €; ab 16 Jahren

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