Eine überdimensionierte Beinprothese steht mitten im Börsensaal. Der Medizintechnikanbieter Ottobock geht an diesem Donnerstagmorgen in Frankfurt aufs Parkett. Vorstände des Unternehmens, Mitarbeiter, Investmentbanker, Anwälte und andere Berater strömen kurz vor Handelsbeginn aus ihrer separaten Lounge in den Saal. Einige greifen sich kleine blaue Glöckchen, die auf Stehtischen bereitliegen.
Der Vorstandsvorsitzende Oliver Jakobi betritt das Podium, liest einen Redetext ab, mit den Schlagworten des südniedersächsischen Unternehmens: „Bewegungsfreiheit und Lebensqualität für die Menschen“. Verwaltungsratschef Hans-Georg Näder, Nachfahre des Mitgründers Otto Bock, hält sich kurz, lässt stattdessen einen Film einspielen, in dem eine Orthesenträgerin ein Gedicht darbietet. Prominente Leichtathleten sind anwesend, Ottobock gehört zu den Sponsoren der Paralympischen Spiele.
Ottobock ist zwar der vierte Neuling des Jahres an der Frankfurter Börse – aber die erste große Neuemission, das erste große IPO (Initial Public Offering). Anders als im September Aumovio : Der Automobilzulieferer ging über eine Abspaltung des bisherigen Mutterkonzerns Continental an die Börse. Dessen Aktionäre bekamen Anteilsscheine direkt ins Depot gebucht.
Die Messlatte sind 66 Euro
Viertel nach neun, im Handelssaal warten alle auf den ersten Kurs. Die Messlatte sind 66 Euro, denn das ist der Ausgabepreis, den Ottobock zwei Tage zuvor fixiert hat – am oberen Ende einer ursprünglich definierten Spanne von 62 bis 66 Euro. Die Blicke richten auf den Skontroführer der Baader-Bank, der hinter einem Pult die Kernzahl verkünden wird: 72 Euro, neun Prozent über dem Ausgabepreis. Jubel im Saal, Applaus, die Mitarbeiter schwingen die blauen Glöckchen. Jakobi, Näder und weitere Manager des Unternehmens tun es ihnen auf dem Podium mit der großen Börsenglocke gleich – der Handel mit Ottobock ist im Wortsinne eingeläutet.
Bis zum Mittag fällt der Kurs ab, liegt mit 69,30 Euro aber immer noch deutlich über dem Ausgangsniveau. Aus den 66 Euro Ausgabepreis hatten sich 4,2 Milliarden Euro als gesamte Marktkapitalisierung errechnet. Für die Unternehmensbewertung sind die Nettoverbindlichkeiten zu addieren: Ende Juni standen sie bei gut 1,1 Milliarden Euro. Der Erlös von gut 800 Millionen Euro fließt zum größten Teil der Eigentümerfamilie um Verwaltungsratschef Näder zu. Sie will Schulden abbauen, die sie im vergangenen Jahr aufnahm, als sie ein 20-Prozent-Paket der Beteiligungsgesellschaft EQT zurück erwarb. 100 Millionen Euro fließen an das Unternehmen selbst.
19 Prozent des Grundkapitals sind nun im Streubesitz. Dazu zählt der Hamburger Logistikunternehmer Klaus-Michael Kühne, der über ein privates Beteiligungsvehikel Aktien für 125 Millionen Euro gezeichnet hatte und damit auf knapp drei Prozent der Anteile kommt. Zweiter Ankeraktionär ist ein Fonds des US-Vermögensverwalters Capital Group , der für 115 Millionen Euro einsteigt.
Organisiert wird der Börsengang von BNP Paribas, der Deutschen Bank und Goldman Sachs. Philipp Süß, Goldman Sachs’ Eigenkapitalmarktchef für Deutschland und Österreich, zeigt sich zufrieden. „Ein starkes Signal an den Markt“ sei die Beteiligung der Ankeraktionäre, sagt er der F.A.Z. Der bei IPOs übliche Rabatt für die neuen Investoren habe nur etwa elf Prozent betragen, wenn man die Bewertung des Konkurrenten Embla zugrunde legt. Üblich sind momentan höhere Abschläge zur maßgeblichen Konkurrenz. Eine starke Nachfrage habe es auch von Kleinanlegern gegeben, sagt Süß.
In Deutschland hat die Börse vor Ottobock in diesem Jahr nur drei Neulinge gesehen: neben Aumovio zwei kleinere Unternehmen, den Elektrizitätsnetzausrüster Pfisterer und den Softwareanbieter Innoscripta . Nach Daten des Statistikdienstleisters Dealogic erreicht das addierte Volumen der Neuemissionen einschließlich Ottobocks 1,2 Milliarden Euro, nach 2,2 Milliarden Euro in der Vergleichsperiode des Vorjahres.
Obwohl der deutsche IPO-Markt die Fachleute seit Jahren enttäuscht, äußern sich viele chronisch optimistisch – und verweisen auf die sogenannte Pipeline, den Vorrat an kommenden Börsengängen. Zu den wenigen, die die Lage nüchtern benennen, gehört Julian Schulze De la Cruz, Co-Leiter für Kapitalmarktrecht der Kanzlei Noerr. „Kennzeichnend für das Börsenjahr 2025 waren bislang, einmal mehr, abgesagte Börsengänge.“ Zwar seien Investoren unverändert an Rüstung und Technologie interessiert, aber die Kapitalmärkte in den USA und Asien böten oft bessere Rahmenbedingungen. „Erschwerend kommt hinzu, dass viele der letzten Börsengänge in Deutschland eine eher enttäuschende After-Market-Performance gezeigt haben“ – also eine schwache Kursentwicklung nach dem Gang an die Börse.
Absage anderer Börsengänge
Brainlab und Autodoc hatten in diesem Jahr den Börsengang geplant, aber wegen offenkundig zu schwachen Investoreninteresses abgesagt. Anderswo verhandelten Eigner parallel über einen Direktverkauf und stiegen dann auch auf diesem Wege aus: wie im Fall der Bank OLB und des Arzneimittelkonzerns Stada. In der Schweiz lieferte am Mittwoch ABB ein Beispiel: Der Technikkonzern verkauft seine Robotiksparte an Softbank – anstatt sie wie angekündigt über die Börse abzuspalten. Auch Tennet Deutschland enttäuschte die IPO-Hoffnungen: Der niederländische Staat als Eigner verkauft einen Minderheitsanteil direkt an Investoren.
Momentan zögen Eigner den Ausstieg über eine M&A-Transaktion oft vor, „hauptsächlich wegen der höheren Transaktionssicherheit und weniger aufgrund von Bewertungsunterschieden“, sagt Berthold Fürst, Leiter Investmentbank im deutschsprachigen Raum in der Deutschen Bank. Gleichwohl belebe sich auch der Markt für Börsengänge, wie Ottobock und die angekündigte Abspaltung von Thyssenkrupps Marinetochtergesellschaft TKMS über die Börse zeigten.
Laut Dealogic brachten europäische Börsengänge in diesem Jahr bisher umgerechnet 14,8 Milliarden Dollar ein, in der Vergleichsperiode des Vorjahres waren es 15,4 Milliarden Dollar gewesen. Immerhin ist der Rückstand im Vorjahresvergleich zuletzt geschrumpft, weil das Geschäft nach einem besonders schwachen ersten Halbjahr angezogen hat. Am Mittwoch debütierte der Alarmanlagenanbieter Verisure in Stockholm. Im bislang größten europäischen Börsengang des Jahres erlöste er mehr als drei Milliarden Euro, Mehrheitseigentümer ist der Finanzinvestor Hellman & Friedman.
Munterer als der IPO-Markt zeigt sich das Geschehen mit Fusionen und Übernahmen (Mergers & Acquisitions, M&A). In Deutschland summierte sich nach Dealogic-Rechnung das Übernahmevolumen im bisherigen Jahresverlauf auf 87,1 Milliarden Dollar, nach 75,8 Milliarden in der Vorjahresperiode. Es verteilte sich dabei auf weniger Transaktionen, nämlich auf 1255 versus 1367. „Der deutsche M&A-Markt hat sich in diesem Jahr nach einem sehr durchwachsenen Start inzwischen deutlich belebt“, sagt Holger Hofmeister, Partner bei der Kanzlei Skadden. Vor allem Private Equity sei aktiv, „der Fokus auf das Portfoliomanagement der letzten Zeit scheint sich für viele jetzt auszuzahlen“. Konzerne seien derzeit noch zurückhaltend, unter anderem wegen der Unwägbarkeiten der Geopolitik.
Deutschland stellt nach Dealogic-Daten in diesem Jahr bisher den zweit- und drittgrößten Private-Equity-Deal in Europa: nämlich mit Stada und Techem, die in dieser Tabelle mit umgerechnet 8,2 Milliarden Dollar und 7,8 Milliarden Dollar bewertet werden. Größer ist in Europa nur die anstehende Übernahme des niederländischen Kaffeekonzerns JDE Peet’s. Dieses Geschäftsvolumen wird mit 23 Milliarden Dollar veranschlagt.
Source: faz.net