Ortsbesuch | Wessi entdeckt Prenzlau: Simon Strauß fühlt sich emotional denn Ostdeutscher

„Wo geht’s denn Richtung Zentrum?“, frage ich eine gut gekleidete Frau am Bahnhof Prenzlau. „Wollen Sie zur Lesung von Simon Strauß?“, fragt sie zurück und stellt sich als Pressereferentin der Stadt vor. Wenn der FAZ-Journalist zusammen mit Matthias Platzeck sein neues Buch vorstellt, dann reisen sie an aus Berlin, Verlagsleute und Journalisten kommen in die ostdeutsche Provinz. Strauß’ Buch In der Nähe handelt von Ostdeutschen, vom politischen Wesen der Kleinstadt und davon, wie sich ein junger Konservativer den idealen Bürger vorstellt.

Ein paar hundert Meter vom Bahnhof, links in die Grabowstraße, da ist alles sehr ordentlich und überschaubar. Die Freiwillige Feuerwehr, geputzte Reihenhäuser und das Sanitätshaus Kohn. Plötzlich steht man vor einem Ziegelrundbau, es ist der historische Wasserturm von Prenzlau. Im angebauten Flachbau sitzt der Uckermark Kurier, es ist noch Licht, ein Redakteur macht die Tür auf. Klar habe er von der Simon-Strauß-Lesung gehört, er müsse aber zum Finanzausschuss. Kann er erklären, warum die AfD in Prenzlau bei den Bundestagswahlen auf 40 Prozent kam? Felix Teichner sei ein „gewinnender Mensch“, sagt er nüchtern, „kein Hetzer“. Er habe mit seiner Art „viele Multiplikatoren“ in Prenzlau überzeugen können.

„Deichgraf“ Platzeck, Strauß und der AfD-Mann

Weiter durch den herbstlichen Stadtpark, entlang an Plattenbauten, dann steht man an der Jacobi-Kirche mit ihren großen Spitzbogenfenstern und Natursteinwänden. „Matthias Platzeck im Gespräch mit Simon Strauß“, die Lesung ist seit Wochen ausverkauft, fast 200 Leute sind da. Eigentlich kaufe man in Prenzlau keine Karten für Buchvorstellungen, sagt eine ältere Frau, „da geht man so hin und ist froh, wenn 30 Leute kommen“. Sie sei mit Freundinnen hier, weil Matthias Platzeck sein neues Buch vorstellt. „Nee“, verbessert sie sich, „der Simon Strauß isses.“ Aber Platzeck ist das Zugpferd, Brandenburgs Ministerpräsident a. D., der „Deichgraf“. Nach dem Rücktritt zog er in die Uckermark, neulich erst habe er mit ihr im Marktkauf am Obstregal gestanden, sagt eine Frau.

An der Weinbar stellt sich ein Graumelierter als Vorsitzender des Geschichtsvereins von Prenzlau vor und deutet auf einen kleinen Mann, weißes Hemd, Jackett, der durch den Saal geht: „Da isser, der Teichner. Wer Landrat werden möchte, der muss sich zeigen.“ Teichner, AfD-Kreisvorsitzender der Uckermark, sei sein Schüler gewesen, „in Sport, nicht in Geschichte“. Zur Weimarer Zeit habe die Uckermark, auch Prenzlau, übrigens überdurchschnittlich hoch NSDAP gewählt. Teichner geht auf Simon Strauß zu, Hände werden geschüttelt.

Basel, Cambridge und das Nowhere-Gefühl der ostdeutschen Provinz

Simon Strauß ist der Sohn des Dramatikers Botho Strauß, der seit Ewigkeiten ein Haus in der Uckermark hat. Simon ist 1988 in Berlin geboren, ging da zur Schule und fuhr am Wochenende aufs Land. Er kenne Prenzlau schon lange, wird er später auf der Bühne sagen. Früher sei er nur zum Einkaufen hin. Tankstelle, Autoparkplatz, McDonald’s, „ein bisschen amerikanisches Nowhere-Gefühl in der ostdeutschen Provinz“. Strauß hat Geschichte und Altertumswissenschaften in Basel und Cambridge studiert, an der Humboldt-Uni promoviert und Romane veröffentlicht. Was treibt ihn, einen Kosmopoliten, zurück in die ostdeutsche Provinz? Und wie kommt einer wie er hier an bei den Leuten?

Erst mal aber spielen The Dorfs, vier Musiker aus der Uckermark, der ironische Song handelt von Eigenheiten der Kleinstadt (alles sauber!). Dann grüßt der Verleger von Klett-Cotta das Publikum, er ist aus Stuttgart nach Prenzlau gekommen, eigentlich sei er Rheinländer. Er redet von der „oberflächlichen Schönheit und bürgerlichen Unverbindlichkeit westdeutscher Städte, wie Düsseldorf“. Weil er glaubt, damit kriegt man die Prenzlauer? „Ich freue mich, Simon, dass du dich ins Offene des Ostdeutschen gewagt hast.“ Man müsse „ideologische Verkrampfungen“ lösen.

„Guten Abend, Prenzlau!“ – Eine moderne Version der Polis in Athen?

Simon Strauß, schlichter Wollpullover, jungenhaftes Aussehen, betritt die Bühne, rotes Licht, die Kirchenorgel als Kulisse. „Guten Abend, Prenzlau!“ Was Rockstars so sagen. Dann liest er aus dem Vorwort seines Buchs, für das er mit Prenzlauer „Stadtbürgern“ geredet hat, mit einem „verwaltungsstolzen“ Bürgermeister, einer „schaffenskräftigen“ Kita-Leiterin, einem „engagierten“ AfD-Politiker, einer Pfarrerin und Ingenieuren aus dem Armaturenwerk. Mit Platzeck, der den Stolz auf den Überlebenswillen des Ostens verkörpere, und mit Felix Teichner, dem AfD-Mann.

Das Buch und die Begegnung mit Platzeck haben eine Vorgeschichte. Strauß hat 2024 vor der Landtagswahl eine Podcast-Reihe für die FAZ gemacht, Gespräche mit Prenzlauern geführt. Da habe er gemerkt, „dass diese Stadt nicht so einfach zu verstehen ist“. Er wollte näher an die Leute ran, ihre Geschichten hören. Kam über Jahre immer wieder. Strauß war bei Wahlabenden, Neujahrsempfängen, Nachbarschaftsinitiativen, ging zu Festen, Sitzungen, Umzügen. Und er fragte sich: Ist Gemeinschaft noch möglich? Sein Idealbild einer Bürgerschaft ist die Polis in Athen. Die hatte 20.000 Vollbürger (Sklaven und Frauen gehörten allerdings nicht dazu). „Prenzlau hat heute genauso viele.“ Eine überschaubare Welt, wo Bürger politisch handeln, selbstbewusste Könner, so sieht er es. Als sei Prenzlau nur eine moderne Version des antiken Athen.

Das Wort „Ost“ habe was Romantisches

Strauß schweben Formen direkter Beteiligung vor, dazu gehören für ihn dann auch Bürgerbegehren, wie es in Prenzlau eines gegen ein neues Flüchtlingsheim gab. Er wünsche sich in solchen Fällen einen „Runden Tisch“ mit allen – „ja, allen!“ –, um sich erst mal sachlich zu verständigen. Man müsse den Rechten mit Argumenten begegnen, nicht nur mit Schmähungen und Ausgrenzung. Manche im Saal schütteln den Kopf: „Neoromantisches Wunschdenken, da bleibt er sich treu“, sagt meine Nachbarin.

Strauß auf der Bühne sagt, er sehe sich als „Emo-Ostdeutscher“, also Ostdeutscher nach emotionaler Zugehörigkeit, eine Identitätskategorie, die der Soziologe Steffen Mau eingeführt hat. Das Wort „Ost“ habe für ihn was Romantisches, so Strauß, Prenzlau nennt er „meine kleine Stadt“. Was heute im Osten geschieht, finde er spannender als das woanders im Land, weil im Osten die politische Kultur „gärt“.

Im Buch kommt Strauß auf die „Anywheres“ und „Somewheres“, die Nirgendwos und die Dagebliebenen, die für den britischen Autor David Goodhart das entscheidende Merkmal unserer Gegenwart bilden. Dass Strauß, der Weltbürger, den Osten entdeckt, kann mit seinem Faible fürs Gestern zu tun haben, für das Verschwundene. In seinem Buch Römische Tage spaziert der Held stundenlang durch die Ewige Stadt, „zerfressen von vergangenen Idealen“. Nach Rom jetzt also Prenzlau.

Den Rechtsruck nicht nur auf die Ostdeutschen schieben

Matthias Platzeck betritt die Bühne, er ist älter geworden, grauer Stoppelbart, ein Elder Statesman, der etwas müde wirkt. „Wie finden Sie Simons Buch?“, fragt die Moderatorin. Er habe es quergelesen, sagt Platzeck, finde es schön. Platzeck mag Strauß’ Begriff der „robusten Emanzipation“ für Frauen im Osten. „Simon hat sich auf einzelne Menschen konzentriert. Hier geht es um Lebensläufe, um Niederlagen und Wünsche.“

Wenn es um den Osten gehe in den letzten Jahren, dann oft nur um Niederlagen, sagt der westdeutsche Strauß. „Das war ein Über-den-Kopf-Streicheln, ein Nicht-ernst-Nehmen. Dabei gehört der Osten ins Zentrum der Geschichte, die wir über dieses Land erzählen.“ Platzeck lächelt. Der Rechtsruck sei fast nur den Ostdeutschen zugeschrieben worden. „Die sind verformt. Und dann hat man Wahlen im Westen und merkt: Jetzt fängt das hier auch an, ohne die viel zitierte Diktaturvergangenheit. Jetzt muss man plötzlich neue Erklärungen finden.“

„AfD“ sagt keiner, aber da ist sie

Ein bisschen zu idealistisch sei ihm Strauß’ Buch manchmal, sagt Platzeck, so harmonisch gehe es auch in der Kleinstadt nicht immer zu. Politisch betrachte er manches anders, er habe lange mit Simon diskutiert. Natürlich sehe er auch Probleme, sagt Strauß, „aber ich muss daraus keine Überschrift machen“. Keiner sagt „AfD“, aber sie sitzt im Raum. Man kommt in Prenzlau nicht an ihr vorbei. Platzeck nuschelt was. „Lauter!“ Man müsse sich schon fragen: Was haben wir alten Parteien falsch gemacht? Was ist schiefgelaufen?

Nach dem Gespräch eilt Platzeck von der Bühne, steht dann zufällig neben Teichner, dem AfD-Mann. War spannend, sagt der, er hätte noch ein paar Denkanstöße, „die könnten wir mal unter vier Augen besprechen“. Platzeck lässt ihn links liegen. Dann ist er verschwunden.

Simon Strauß und sein Verlag laden noch zur Party, im ausgebauten Dachgeschoss der Kirche gibt es Häppchen, Pizza, Wein. Das ZDF ist hier, Berliner Blase und Prenzlauer, auch der Ingenieur vom Armaturenwerk. Simon Strauß stellt sich in der Mitte des Raumes auf einen Stuhl. „Danke, Prenzlau!“, ruft er. Wie ein Volkstribun.

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