Oper „Sancta“: Sex am Kreuz und welcher Leib Christi denn Grillgericht

Ausgerechnet zu Fronleichnam, dem Fest des Leibes und Blutes Christi, fand am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin die Premiere von Florentina Holzingers erster Musiktheaterproduktion statt: Ausgehend von Paul Hindemiths einaktiger Oper Sancta Susanna arbeitet sich Holzinger in Sancta spektakulär am katholischen Glauben ab.

Hindemiths nur 25 Minuten kurze Oper mit dem Text Ein Gesang der Mainacht von August Stramm geriet bei ihrer Uraufführung vor rund 100 Jahren zum Skandal. Die Nonne Susanna (bei Holzinger die Sopranistin Cornelia Zink) entdeckt im Gebet ihren Körper und ihr Begehren und soll dafür sanktioniert werden. Ihr droht es zu ergehen wie Jahre zuvor auch Schwester Beata, wie sie von Ordensschwester Klementia (Andrea Baker) erfährt. Als die „ihren nackten, sündigen Leib gegen das gekreuzigte Heilandsbild“ presste, wurde sie kurzerhand lebendig eingemauert.

In Schwerin bildet die einaktige Oper lediglich den Auftakt zu einem Abend, der nicht weniger ist als das Zerschlagen einer bestehenden und das Stiften einer neuen Religion – sehr bildhaft, wenn beispielsweise Michelangelos Fresko Die Erschaffung Adams auf der Bühnenrückwand, einer Kletterwand, zersplittert (Bühne: Nikola Knežević).

„Sancta“ feiert eine Messe der Selbstermächtigung

In der expressionistisch-symbolistischen Oper stehen eine große Spinne, die über den Altar spaziert, und der Duft des „blühenden Flieders“ für die aus männlicher Sicht gefährliche und zugleich verheißungsvolle weibliche Lust. Als die Worte vom Flieder von den Sängerinnen der Schweriner Oper gesungen werden, betreten zwei der Performerinnen (Netti Nüganen, Jasko Fide) die Bühne und beginnen, lesbischen Sex zu performen. Das wird der erste von vielen Momenten der Befreiung weiblichen Begehrens aus dem männlichen Blick, mithin das Prinzip des Abends: die patriarchale, christliche Symbolik wörtlich zu nehmen und performativ umzudeuten – selbstredend nackt.

So beginnt nach der Oper eine zweieinhalbstündige Messe-Show als feministische Nummern-Revue, wie man sie von Holzinger kennt: Die heilige Messe wird zur Rollerblade-Disko, der Heilige Geist zur Bühnenmagierin, die Wasser in Wein verwandeln und Eva aus einer Rippe erscheinen lassen kann. Jesus selbst vollführt als vapender Revolutionär (angelehnt an die Captain-Hook-Figur aus Holzingers Erfolgsstück Ophelia’s Got Talent) die Himmelfahrt durch Kistenklettern. „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben“: Also wird Xana Novais buchstäblich ein Stück Fleisch aus dem Körper geschnitten und fürs letzte Abendmahl zubereitet: „Dies ist mein Leib“ – nur eben gegrillt.

„Bodenlose Tiefen, himmellose Höhen“, heißt es bei Hindemith/Stramm. Auch das nehmen Holzinger und alle Beteiligten der Produktion – Holzinger ist radikale Teamplayerin – wörtlich. Aus dem Bühnenboden fährt eine Halfpipe, aus dem Bühnenhimmel sinken unter anderem ein Kreuz, das sich ausgezeichnet für lesbischen Sex eignet, eine Glocke, zu deren Klöppel gleich zwei Performerinnen werden, oder eine bühnengroße Leinwand. Am Rand steht ein Roboterarm, der wahlweise einen Kelch, ein Kreuz oder Saioa Alvarez Ruiz (als erste lesbische Päpstin) durch die Luft wirbelt.

Holzingers Mittel: Stunts, Selbstverletzung, Offenbarung

Bekannte Mittel von Holzinger werden aufgefahren: Stunts, Selbstverletzungen, Selbstoffenbarung, Action Painting. Und doch verfangen dieses Mal die gemeinschaftsstiftenden Momente besonders gut, die in einer rituellen Praxis (die Bühne ist die Kirche, heißt es) einen neuen quasireligiösen Zusammenschluss all jener bilden, die unter einer hetero-cis-männlichen „Abled bodies“-Norm in einem von der Kirche mitverantworteten Patriarchat leiden.

Wenn die Performerinnen erzählen, warum eigentlich sie heiliggesprochen werden sollten, reicht das Spektrum davon, Videos von sich selbst beim Toilettengang im Internet zu verkaufen, bis zum Bericht, als Kind sexuell missbraucht worden und trotzdem selbst keine Straftäterin geworden zu sein. Das Märtyrer*innentum wird hier nicht profan, die Leiden des unterdrückten Begehrens im Patriarchat werden sublimiert und dadurch gerächt – aber mit Liebe. Die Wunder des christlichen Glaubens werden zu einer realen Möglichkeit der Selbstermächtigung.

Die Musik der Oper wird für den zweiten Teil erweitert um Kompositionen von Johanna Doderer sowie unter anderen Born in Flamez und otay:onii, die als schreiende Beata aus der Mauer hervorbricht. Die Sängerinnen des Opernchors und das Orchester unter der Leitung von Marit Strindlund begleiten auch den zweiten Teil des Abends. Als Nonnen bildet der Opernchor die Ambivalenz der Schwesternschaft ab, die zwischen selbstbestimmter weiblicher Gemeinschaft und Relikten eines Glaubens schwankt, der ihr Begehren unterdrückt – wie die Bewegung in der Glocke, auf der Halfpipe oder beim Schaukeln auf einem übergroßen Weihrauchfass.

Das Spektakel endet mit der Utopie einer spirituellen, feministischen Gemeinschaft, die selbst die Grenzen der Erde überschreitet: „Don’t dream it, be it“, heißt es im Stil eines Gospel-Gottesdienstes. Das könnte theoretisch gesättigter sein, erfüllt aber die emotionale Wirkung.

Sancta Musik: Paul Hindemith, Johanna Doderer und andere, Regie und Choreografie: Florentina Holzinger Uraufführung: Mecklenburgisches Staatstheater, Schwerin; weitere Termine: Wiener Festwochen, Staatsoper Stuttgart und Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

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