Oper – „Il Teorema di Pasolini“ an der Deutschen Oper Berlin: Sängerfest des Untergangs

Ein Fremder, ein freundlicher Gast kreuzt unversehens in einer Mailänder Industriellenfamilie auf. „Eine große Familie, jeglicher Liebe beraubt“, wie Lucia, die Mutter, klagt. Der Namenlose bringt nicht Liebe, sondern Sex, schläft mit allen: Mutter, Vater, Tochter, Sohn und auch noch mit der Haushälterin. Kein Akt der Befreiung, sondern der schöpferischen Zerstörung: Normen zerbrechen, aber auch alle Charaktere. Die Tochter landet in der Psychiatrie, der Sohn flieht erfolglos in die abstrakte Kunst, die Mutter wirft sich in die Arme vieler Männer, der Vater gibt seine Firma auf, zieht nackt in die Wüste. Und die Haushälterin verliert sich in religiösem Wahn, steigt als Heilige zum Himmel auf, ehe sie sich selbst begräbt. Eine der großen, tragisch-satirischen Pasolini-Momente dieser Oper von Giorgio Battistelli.

Der Italiener vertonte ein berühmtes Werk seines 1975 ermordeten Landsmanns. Der legendäre Regisseur Pier Paolo Pasolini erzählte keine realistische Geschichte, sondern stellte, der Titel seines Films Teorema – Theorem – verrät es, das Konzept der bürgerlichen Familie fundamental infrage. Alles, was geschieht, ist symbolisch. Es sind Fantasien, die Pasolini seiner Gedankenwelt verdankt, einer kruden Kreuzung aus Marxismus, Messianismus und Sexismus. Der 1968 produzierte Film beginnt mit einer Debatte über die Konsequenzen für den Kapitalismus, wenn ein Industriebetrieb an die Arbeiter verschenkt wird. Der Stoff wurde zu einer Zeit revolutionärer Arbeiter- und Studentenunruhen anders empfunden, hat aber nichts an Relevanz verloren. Die politische Dimension kommt in der Oper, die Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin feierte, nicht mehr vor.

Battistelli hält sich mehr an Pasolinis Roman „Teorema“, als an den Film

Das Auskosten aller filmischen Mittel, vor allem live gedrehter Großaufnahmen, ein schon von Frank Castorf ziemlich abgenutztes Verfahren, ist in einem veroperten Film nahezu unvermeidlich. Das irische Regie-Kollektiv Dead Center (Ben Kidd und Bush Moukarzel) führt zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal auf einer Opernbühne Regie. Ihre Video- und Lichteffekte verstärken die Effekte der Musik mit größter Präzision.

Battistelli hält sich als Librettist allerdings weniger an den Film als an den gleichzeitig von Pasolini verfassten Roman. Respektvoll hält er sogar an der Erzählperspektive des Romans fest. Alle Personen sprechen von sich selbst ausschließlich in der dritten Person, stehen gleichsam neben sich. Deshalb wirken sie so, als seien sie trotz extremer Emotionen nicht in der Lage, sich mit sich selbst zu identifizieren. Das wiederum macht es dem Publikum fast unmöglich, mit den Figuren zu fühlen.

Langsam aber sicher verfällt die Industriellen-Familie in „Il Teorema di Pasolini“

Foto: Eike Walkenhorst

An diesem Problem beißen sich auch die Regisseure die Zähne aus. Sie besetzen deshalb alle Rollen doppelt. Die Sänger und Sängerinnen treten zunächst als Wissenschaftler (in weißen Overalls wie Kriminaltechniker) auf, die die von Schauspielern und Schauspielerinnen verkörperte Familie als soziales Experiment begreifen. Der Fremde wird als einer von ihnen eingeschleust. Erst im zweiten Teil übernehmen sie selbst die Rollen. Überzeugend ist das nicht, weil nicht nur die Figuren gedoppelt werden, sondern auch auf alles von Bedeutung doppelt demonstrativ hingewiesen wird.

Es muss also wieder einmal, wie es sich für eine Oper gehört, die Musik für die sinnliche Faszination sorgen. Sie nutzt alle Möglichkeiten der menschlichen Stimme: Flüstern, Deklamieren, Sprechgesang und strömende Arienlust gehen nahtlos ineinander über. Das Sängerensemble aus Spanien (Ángeles Blancas Gulín), Puerto Rico (Meechot Marrero), Italien (Davide Damiani, Monica Bacelli) und Russland (Andrei Danilov, Nicolay Borchev) sorgt auch für ein Sängerfest.

Daniel Cohen bringt die Partitur zum Leuchten

Der siebzigjährige Komponist Battistelli wurde berühmt mit einem Stück für fünf Frauenstimmen und sechzehn Handwerker, die auf der Bühne mit ihren Werkzeugen als Musiker agieren (Experimentum Mundi, 1981). Ein Avantgardist, doch eben keiner, der mit Noten akademisch theoretisiert, sondern stets der theatralischen Kraft der Musik vertraut. Dass er mit beiden Füßen in der vierhundertjährigen Tradition der italienischen Oper steht, ist nie zu überhören. Alles klingt schön. Seine vollmundige Musik mit süffigem, großem Orchesterklang entwickelt einen süchtig machenden Sog. Im zweiten Teil, der den absurden Zerfall der Familie zeigt, wird der Klangrausch noch kraftvoller, kontrastreicher – was auch daran liegt, dass die Figuren nun miteinander kommunizieren. Daniel Cohen, Generalmusikdirektor in Darmstadt und mit der Deutschen Oper wohl vertraut, bringt im Orchestergraben die packende, hochkomplexe Partitur zum Leuchten.

Der Komponist hat, eine Seltenheit, den Stoff zum zweiten Mal vertont, das erste Mal im Auftrag des Komponisten Hans Werner Henze vor mehr als dreißig Jahren. Es war damals eine Oper, in der die zur Kommunikation unfähigen Charaktere stumm blieben und nur das Orchester spielte. Zweifellos also ein Mann von Humor, der Pasolini bewundert, aber nicht vor ihm erstarrt. Der junge Battistelli fragte ihn einst, wer wohl der Fremde im Stück sei – doch wohl ein Kommunist? Pasolinis Antwort: „Denke ihn dir als Engel, als einen Engel der Vernichtung.“ Das neue Stück gibt noch eine andere Antwort: Es ist der Gesellschaftsprovokateur Pasolini selbst, der da auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin lebendig wird.

Il Teorema di Pasolini Musik: Giorgio Battistelli, Musikalische Leitung: Daniel Cohen, Regie: Dead Centre Deutsche Oper Berlin

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