Olaf Scholz saust auf einem gepanzerten Transportfahrtzeug durch eine hügelige Waldlandschaft 50 Kilometer von Vilnius entfernt. Neben ihm auf dem deutschen Radpanzer Boxer steht Litauens Staatspräsident Gitaneas Nausėda. Die beiden werden gleich eine komplexe Militärübung beobachten: Simuliert wird ein Angriff einer feindlichen Militärmacht, die nicht zufällig an Russland erinnert.
Mehrere Nato-Länder proben hier in Pabradė, auf Litauens größtem Truppenübungsplatz, gemeinsam den Ernstfall. Scholz‘ Miene da oben auf dem Panzer ist angemessen ernst. Aber als er die auf ihn wartende Delegation sieht, huscht ihm ein leichtes Grinsen über das Gesicht. Es wirkt, als könne er, der frühere Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende, sich einen ironischen Gedanken nicht verkneifen.
Scholz demonstriert an diesem Tag, an dem er Litauen und Lettland bereist, mehrfach, dass er als gut vorbereiteter Kanzler stets die richtigen Fachwörter und Fakten parat hat. Aber es gibt gewiss Politiker, die einen natürlicheren Umgang mit Soldaten und deren Ausrüstung ausstrahlen als der deutsche Bundeskanzler.
Es knallt und blitzt und dampft. Von allen Seiten kommen Panzer angeschossen. Drohnen surren durch die Luft. Menschen in Tarnanzügen sprinten über das Geländer. Es ist kalt und regnet. Die Übung ist Teil des Nato-Großmanövers „Steadfast Defender 2024“, an der insgesamt 90.000 Soldaten und Soldatinnen beteiligt sind. Deutschland ist mit 12.000 stark engagiert. Es ist die größte Verteidigungsübung der Nato seit dem Ende des Kalten Krieges. Viele Anwesende schauen gebannt jeweils dort hin, von wo nach wo geschossen wird, Scholz wirkt nicht ganz so gefesselt. Er, beileibe kein Smalltalker, unterhält sich mit seinen Sitznachbarn.
Martialischer als sein Gestus ist Scholz‘ Rhetorik. In einer kurzen Rede betont der Kanzler, er sei fest entschlossen, „jeden Zentimeter“ des Nato-Territoriums zu verteidigen. Dazu gehören seit 20 Jahren auch die baltischen Länder. Scholz haftet hinsichtlich des Krieges in der Ukraine der Ruf der Zögerlichkeit an, auch wenn dieser angesichts erheblicher Waffenlieferungen nicht ganz gerechtfertigt ist. Aber selbst „Kriegspartei“ werden will er auf keinen Fall. Das betont Scholz auch in Pabradė. Um so entschiedener gibt er sich, wenn es um das bestehende Gebiet der Nato geht.
Auf keinen Fall Kriegspartei werden
Und hier in Litauen handelt es sich um besonders bedrohte Quadratzentimeter. Wenige Kilometer hinter dem Gefechtsstand liegt Belarus. Auch die sogenannte Suwalki-Lücke beginnt hier in der Nähe, die dünne Landverbindung zwischen den baltischen Ländern und Polen. Die Suwalki-Lücke gilt als eine der labilsten und angreifbarsten Gegenden der Nato. Russlands stellvertretender Verteidigungsminister sagte kürzlich, seinem Land wäre es möglich, diesen Korridor binnen Stunden zu erobern.
Und dann wären schnell die Deutschen gefragt. Die Bundesrepublik hat als sogenannte Rahmennation eine besondere Verantwortung für Litauen übernommen. Schon jetzt stellt Deutschland den Kommandeur und 900 Soldatinnen und Soldaten eines multinationalen Bataillons zum Schutz der Nato-Ostflanke. Das ist erst der Anfang. In diesem Jahr hat der Aufbau einer dauerhaft in Litauen stationierten deutschen Kampfbrigade begonnen. Bis 2027 sollen etwa 5.000 Soldaten mit ihren Familien dort stationiert sein. Das ist viel: Litauens Herr besteht insgesamt gerade mal aus 12.500 aktiven Soldaten.
Scholz nennt dieses Vorhaben ein „Leuchtturmprojekt“. Eine solche dauerhafte Stationierung im Ausland gab seit Beginn der Bundeswehr noch nie. Kritik daran übte etwa der Heeresinspekteur. Die deutsche Armee würde durch die neue Brigade finanziell stark geschwächt. Die geschätzten Kosten betragen zwischen sechs und elf Milliarden Euro. Auch Personal und Material habe man nicht im Überfluss, heißt es aus der Bundeswehr. In Litauen gibt es ebenfalls Diskussionen um die Kosten. Zwar dankt Präsident Nausėda Scholz „persönlich“ und recht herzlich für das Engagement. Aber in seinem Land ist Wahlkampf. Und nicht alle Litauer und Litauerinnen sehen es ein, als Gastland eine neue zivile Infrastruktur für deutsche Elitesoldaten zu finanzieren. Außerdem mahnt Nausėda explizit ein „noch schnelleres Tempo“ an. Russland warte nicht.
Im Gegenteil: Russland ist alles andere als begeistert von den Nato-Aktivitäten in den baltischen Ländern. Was im deutschen Kanzleramt als „Strategie der Abschreckung ohne Konfrontation“ genannt wird, bezeichnet Moskau als „Destabilisierung der Weltlage“. Am Morgen des Scholz-Besuches kündigt Wladimir Putin an, mit Atomwaffen an der Grenze zur Ukraine üben zu wollen.
Scholz will sich davon nicht beirren lassen. Er fühlt sich mit den baltischen Ländern „wertemäßig“ verbunden, „unverrückbar“ stehe er an deren Seite, das betont er oft, nicht nur an diesem Tag. Der heutige ist bereits sein dritter Besuch in den baltischen Staaten in seiner noch nicht mal drei Jahre währenden Kanzlerschaft.
Deswegen ist er auch am Nachmittag noch nach Riga geflogen. Dort kommt er mit den drei Ministerpräsidentinnen von Lettland, Estland und Litauen zusammen. Das war ihm so wichtig, dass er dafür eine kurzfristig eingegangene Einladung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ausschlagen musste. Der hat am Abend Chinas Präsident Xi Jinping zu Gast in Paris und hätte Olaf gern dabeigehabt. Aber Xi und Scholz hätten sich erst kürzlich getroffen, heißt es aus dem Umfeld des Kanzlers, und der Regierungschef wollte die drei baltischen Spitzenpolitikerinnen nicht versetzen.
Am Abend treten Scholz und die Regierungschefinnen im Ministerkabinett von Riga vor die Presse. Hausherrin ist hier die Lettin Evika Siliņa. Sie lobt die gewachsene Bedeutung der 3+1-Gespräche, also der regelmäßigen Konsultationen der drei baltischen Länder mit Deutschland. Auch die anderen beiden danken Scholz für etwas, was ihm zu Hause kaum jemand abnimmt: für die Führungsrolle, die Deutschland unter ihm in der Ukraine-Unterstützung übernommen hat. Allerdings klingt auch deutlich an, dass sie die Lage an der Front kritisch sehen. Und sie fordern noch mehr Engagement – allgemein, wohl aber auch von ihrem deutschen Besucher.
Scholz gefällt diese Konstellation. „Die Sicherheit unserer baltischen Freunde ist auch unsere Sicherheit“, so fasst er es in einer Art Fazit zusammen. In den baltischen Staaten, lautet die Botschaft seiner Reise, werden die Werte des Westens verteidigt. Und östlich davon, gleich hinter Pabradė, beginnt der neue Eiserne Vorhang.
Olaf Scholz saust auf einem gepanzerten Transportfahrtzeug durch eine hügelige Waldlandschaft 50 Kilometer von Vilnius entfernt. Neben ihm auf dem deutschen Radpanzer Boxer steht Litauens Staatspräsident Gitaneas Nausėda. Die beiden werden gleich eine komplexe Militärübung beobachten: Simuliert wird ein Angriff einer feindlichen Militärmacht, die nicht zufällig an Russland erinnert.
Mehrere Nato-Länder proben hier in Pabradė, auf Litauens größtem Truppenübungsplatz, gemeinsam den Ernstfall. Scholz‘ Miene da oben auf dem Panzer ist angemessen ernst. Aber als er die auf ihn wartende Delegation sieht, huscht ihm ein leichtes Grinsen über das Gesicht. Es wirkt, als könne er, der frühere Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende, sich einen ironischen Gedanken nicht verkneifen.