Oktoberfest 2024: Das bayerische Erfolgsrezept – WELT

Bier, Brezen, Blasmusik: Seit Samstag feiern Millionen gut Gelaunte auf dem Oktoberfest einen Wert, den man woanders längst vergessen hat. Warum Integration in Berlin misslingt – und ausgerechnet im konservativen Bayern glückt.

Allem Gejammere über Bierleichen, Trachtenverhunzung, Rekordpreise und Massentourismus zum Trotz tritt das Oktoberfest dieses Jahr zum 189. Mal bei strahlendem Kaiserwetter an, um uns daran zu erinnern, was wir sind: Gemeinschaftswesen.

Nach einem traditionellen Weißwurst- und Prosecco-Frühstück laden die Bierzeltwirte Freunde und Familie ein, um in einem feierlichen Festzug auf die Wiesn einzuziehen. Mit Hopfen geschmückte Festkutschen, prächtige Pferde, marschierende Musikkapellen. „An Gottes Segen ist alles gelegen“, steht auf den Pferdeplaketten am Reitgeschirr.

In der Altstadt in der Nähe des Sendlinger Tors fahren um 11 Uhr auch die beiden Wagen des Feinkosthändlers Michael Käfer los, gemeinsam mit den anderen 13 Wiesnwirten – eine seit 1925 gehegte Tradition. Über die Schwanthaler Straße und den Bavariaring geht es bis zur Wirtsbudenstraße auf der Theresienwiese. Allen voran der Münchner Oberbürgermeister, der am Samstag um 12 Uhr das Oktoberfest mit dem Anstich eröffnet. Für 16 Tage verbreitet sich dann Sissi-Stimmung über der ganzen Stadt.

Vorher hatte ich mir professionellen Rat von verschiedenen Münchner Freunden eingeholt: Das einzige Dirndl, das ich, seit ich 16 Jahre alt bin, besitze, sei für die heutige Mode zu kurz, auch trage man heute eher Waschleinen als reine Baumwolle. Doch meine Sorgen sind unbegründet: Kaum hat man einen Fuß auf Kutsche, Wiesn oder ins Festzelt gesetzt, wird man Teil des wertfreien Kollektivstroms, der gemeinsam gute zwei Wochen lang dem Rausch huldigt. Eine winkende Menge rahmt die Straßen: Babys, Kinder, Eltern und Großeltern, die von Balkonen und Fenstern aus fotografieren. Winken und Trinken, das ist unsere Aufgabe, die wir so ernst nehmen, als lebten wir zur Zeit, als es noch den alten König Ludwig gab. Auf dem Wagen ist es so eng, dass man sich kaum bewegen kann, aber immerhin fällt man so nicht um. Ein Prosit der Gemütlichkeit!

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Auf einem Balkon der Schwanthaler Straße lässt sich ein splitternackter Mann die Sonne auf den Bauch strahlen, einige Fenster weiter genießt eine vollverschleierte Frau den Umzug. Das Politische streift man mit dem Tragen der Tracht ab. Nur eine einzige, von Polizisten umzingelte Mini-Demo ist am Rand des Umzugs zu sehen. Fünf Protestierende halten ein Plakat mit der Aufschrift in die Höhe: „Auch Bio-Fleisch ist ein Klimakiller“.

Um halb 12 Uhr der Moment der Offenbarung: Der Einzug auf die Wiesn. Ein Paulaner-Turm mit überdimensionalem Bierkrug ragt in den blitzblauen Himmel, auf dem Löwenbräu-Turm sitzt ein saufender Löwe, alles ist hier gigantisch, die Brezen sind größer als die Maß. Überall Helligkeit und Buntheit, ein Wimmelbild der Superlative. Wo man auch hinschaut, Ausschnitte aus Ali-Mitgutsch-Gemälden: Ein Paar küsst sich, das andere zofft sich, ein Mädchen staunt mit offenem Mund, ein Bub weint lauthals, ein Gast fährt im Rollstuhl über den Platz, ein Fotograf lässt zufällig nebeneinanderstehende Gäste zu Freunden fürs Leben werden. Kaum ein Fest funktioniert so integrativ wie die Wiesn: Generationen, Geschlechter und Nationen übergreifend.

Wie das Augustiner-Zelt für die klassische Bierbrauerei ist die Käfer Wiesn-Schänke eine Institution, in der sich der FC Bayern und die elegante Münchner Schickeria trifft. Kein Zelt, sondern ein heimeliges Holz-Stübchen, in das man sofort einziehen will. 12 Schüsse, ein Wolkenherz im Himmel, O’zapft is! Schon nach einer Maß freut man sich wie ein kleines Kind über zwei am Schießstand gewonnene Stoffrosen, generös verteilte Komplimente und Abendesseneinladungen zum begehrtesten Tisch.

Reise zum inneren Kind

Als wären Zeit und Raum in der Heterotopie des Jahrmarkts nicht ohnehin schon aufgelöst, entführt Dr. Archibald Master of Time mit einem ratternden Waggon mit Virtual-Reality-Brillen in psychedelische Fantasiewelten. Am Ende schlängeln wir uns durch einen in Schwarzlicht getauchten Fliegenpilz-Wald, wo man über Steine balancieren muss, um nicht im Wasser zu landen. Aber dank Dirndl, jenem feministisch-pragmatischen Kleid, das Wind, Wetter und schiefen Flirts standhält, ist auch ein Fehltritt ins kühle Nass überhaupt kein Problem.

Herrlich aus der Zeit gefallen geht es auch beim 1910 erfundenen Teufelsrad zu, jener kultigen Drehscheibe, die mit dem Spruch wirbt: „Jung und Alt, Groß und Klein können hier lachen und fröhlich sein“. Wer sich am längsten auf der Scheibe hält, und dabei einem in der Luft schwebenden Ball und geworfenen Lasso-Seilen erfolgreich ausweicht, gewinnt. Die Gender-Frage wird hier bayerisch gelöst. Aufgerufen werden erst die Lederhosen- und dann die Dirndl-Träger. Ein Aufseher reißt einen Mann in Jeans mahnend wieder zurück. Das Oktoberfest ist ein Schauplatz unverkopfter Gaudi, der Ort, wo Diversität und Inklusion spielerisch gelingen, statt verkrampft diskutiert zu werden. Auch kulinarisch steht der Zeiger auf Vielfalt: Apfelringe, Dampfnudeln, Obazda, Knödel, vegane Kartoffelsuppe, Schweinshaxe, es gibt nichts, was es nicht gibt.

Je weiter der Tag voranschreitet, desto mehr fragt man sich, warum sich die Feierwütigen in Berlin in dunkle Bunker verschanzen, um einsam vor sich hin zu stampfen, und dabei einer arroganten Ausschlusslogik mit dem Gestus der Indifferenz zu frönen, wo es doch noch Orte wie diesen gibt, wo gute Laune, Freundlichkeit und Zusammenhalt goutiert werden. Hier auf der Theresienwiese fühlt sich alles warm an – ob wegen des Nostalgie-Effekts, des Biers oder der Sonne lässt sich nicht ganz genau sagen. Das Prinzip ist bekannt: das Lagerfeuer als Beginn der Kultur, Brot und Spiele als Ventilfunktion, die Karnevalisierung als Umkehr aller Verhältnisse. Während man glückselig von Fahrgeschäft zu Fahrgeschäft taumelt, kommt einem auch die heute so angepriesene Reise zum inneren Kind in den Sinn, die gegenwärtig wohl angesagteste Therapieform.

Irgendwann nehme ich auf einer Rasenfläche Platz, um mich auszuruhen. Ein Mann mit blinkender Hendl-Mütze will ein Selfie mit mir. Erst später erfahre ich, dass ich mich auf dem „Hang der hundert Räusche“ unter der Bavaria niedergelassen habe. Wer dort einmal lande, sei nur besser dran als die, die schon auf den Ambulanztragen liegen. Die erste „Bierleiche“ wird zweieinhalb Stunden nach Anstich gemeldet.

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Über eine halbe Million Gäste erscheinen am Eröffnungssamstag. In Zeiten des Vereinssterbens, der Individualisierung und des Abdriftens in digitale Sphären, hält sich das größte Volksfest der Welt nicht nur wacker, sondern ist an Beliebtheit kaum zu übertreffen. Hier ist die Welt wieder in Ordnung.

Source: welt.de

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