Jan-Werner Müller ist Experte auf dem Gebiet der Demokratieforschung und
Professor an der Princeton University. International bekannt wurde er durch
seine Arbeiten zur Demokratie, zum Populismus und zur politischen
Ideengeschichte Europas. Jan-Werner Müller hat mehrere Bücher zum Thema
veröffentlicht, zum Beispiel „Das demokratische Zeitalter“ oder „Freiheit,
Gleichheit, Ungewissheit – wie schafft man Demokratie?“. Besonders bekannt
wurde er durch sein Buch „Was ist Populismus?“
Dieses Interview basiert auf einem Gespräch für den ZEIT-Podcast Nur eine Frage. Die Auszüge wurden
gekürzt, redigiert und teilweise umgestellt, um die Lesbarkeit zu verbessern.
Alle Folgen sind auf www.zeit.de/n1f zu finden.
Redaktion: Carl Friedrichs, Jens Lubbadeh
DIE ZEIT: Herr Professor Müller, ist Demokratie die beste Staatsform?
Jan-Werner Müller: Demokratie verspricht
etwas, was kein anderes politisches System verspricht, nämlich, so
idealistisch, so hoch gestochen das klingen mag: Freiheit und Gleichheit. Also auch
ein System, in dem die Bürgerinnen und Bürger die Freiheit, die ihnen geboten
wird, ergreifen können, um politisch tätig zu werden. Das gibt es in keinem
anderen politischen System. Und: Die Demokratie bietet als einzige die
Möglichkeit, dass man die Mächtigen zur Rechenschaft zieht. Dass beides in der
Realität oft nicht so aussieht, wie es in den Lehrbüchern der Demokratietheorie
steht, ist klar. Aber der Anspruch ist da. Und an diesem Anspruch kann man real
existierende Demokratien messen.
ZEIT: Die Demokratie betrachtet also alle Menschen gleich, alle haben die
gleichen Rechte und Pflichten. Das ist in allen anderen Staatsformen nicht so?
Müller: Anders als in anderen Systemen wird in der Demokratie keine Hierarchie
vorgegeben. Ein Beispiel aus der Geschichte ist der Feudalismus. Da ist der
Feudalherr in einer anderen Situation als alle anderen – von Monarchien oder
Autokratien ganz zu schweigen. In der Demokratie ist die politische
Grundgleichheit der Bürgerinnen und Bürger nicht verhandelbar. Natürlich gibt
es hier schwierige Fragen: Wer gehört eigentlich dazu? Wie wird man
Staatsbürgerin und Staatsbürger? Die Gleichheit in Demokratien hat also auf die
Menschheit bezogen Grenzen. Aber Gleichheit muss im demokratischen Paket immer mit
drin sein.
ZEIT: Sie sprachen von der Möglichkeit, die Mächtigen „zur Rechenschaft zu
ziehen“. Ist das Teil des Rechtsstaats, also getreu dem Prinzip: Es gibt
Regeln und wenn die nicht befolgt werden, handelt der Staat und schützt mich?
Müller: Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, aber ich meinte eher – und vielleicht
viel banaler –, dass es, zumindest in der repräsentativen Demokratie, wie wir
sie kennen, Wahlen gibt, bei denen man sagen kann: Ich bin zufrieden mit der
Regierung oder eben nicht. So etwas gibt es in anderen Systemen nicht. Zum
Beispiel in Autokratien oder in sogenannten illiberalen Demokratien. Die sind
gar keine Demokratien; sie zeichnen sich dadurch aus, dass es in Wahrheit keinen
Machtwechsel geben kann, weil die Wahlen manipuliert sind und Bürgerinnen und
Bürger ihre demokratischen Grundrechte nicht effektiv wahrnehmen können. Da
wird Rechenschaftspflicht nur vorgespielt.
ZEIT: Nun gibt es verschiedene Arten, wie Demokratien sich organisieren. In der
Schule lernt man, dass auch die sogenannte Gewaltenteilung ein Fundament der
Demokratie ist. Dass es zum Beispiel unabhängige Gerichte und Polizeien gibt. Ist
das eine notwendige Bedingung für eine Demokratie?
Müller: Da wird es interessant – soll auch heißen: schwierig. Auf der einen Seite
besteht die Gefahr, dass man alles Mögliche, was einem gefällt, in den
Demokratiebegriff mit reinpackt. Gerade den im weitesten Sinne liberal denkenden
Menschen wird gerne vorgeworfen, dass sie den Liberalismus mit der Demokratie kurzerhand
gleichsetzen. Davor muss man sich hüten. Andererseits ist es schon so, dass
irgendjemand die Möglichkeit schützen muss, demokratische Grundrechte effektiv auszuüben.
Damit eine Regierung nicht anfängt, Grundrechte zu untergraben: das Wahlrecht,
das Recht auf freie Rede, das Recht, sich zu versammeln oder einen Verein zu
gründen. Dafür gibt es Gerichte und das ist zumindest in modernen, komplexen
Gesellschaften, wie wir sie kennen, unabdingbar. Aber wie es konkret umgesetzt
wird, da gibt es viele Spielarten.
ZEIT: Zum Beispiel?
Müller: Zum Beispiel sollte man daraus nicht sofort folgern, dass es immer ein
Verfassungsgericht geben muss. In Deutschland ist das eine sehr verbreitete Meinung,
weil wir ja eigentlich alle relativ zufrieden mit dem Bundesverfassungsgericht
in Karlsruhe sind. Aber es gibt andere Demokratien, die auch in den bekannten
globalen Rankings sehr gut abschneiden, gerade im Norden Europas, wo es diese
Art von Gewaltenteilung im Sinne eines speziellen Verfassungsgerichts nicht
gibt. Das bedeutet nicht automatisch, dass es da irgendwelche demokratischen Defizite
gibt.
ZEIT: Gehört auch die Existenz politischer Parteien für Sie zu den
demokratischen Mindestanforderungen?
Müller: Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass moderne, das heißt
repräsentative Demokratien, so wie wir sie kennen, eigentlich nur mit Parteien
funktionieren. Parteien bündeln Ideen, Interessen, aber in gewisser Weise auch
Identitäten. Das ist vielleicht offensichtlich, aber man darf es gerade in
Deutschland, wo das Wort „Zusammenhalt“ sehr populär ist, vielleicht noch mal
sagen: Demokratie ist nicht Konsens. Demokratie ist Konflikt. Sie hilft uns,
auf friedliche Weise Konflikte zu lösen. Das geht nur, wenn irgendjemand Konflikte
in gewisser Weise organisiert und auch anzettelt, wenn Sie so wollen, indem man
sagt: Da liegt etwas im Argen, es gibt gewisse Identitäten und Anliegen, die
gar nicht repräsentiert sind, für die möchten wir uns einsetzen. Parteien sind immer
noch das wichtigste Mittel, damit Bürgerinnen und Bürger sich in einem System
wiedererkennen und ihren persönlichen Willen in politischen Ergebnissen
umgesetzt sehen können.