NS-Zeit | „Erinnerungsort Ihnestraße“: Wissenschaft im Dienste des Nationalsozialismus

Nach langem Vorlauf und vielen Widerständen klärt der „Erinnerungsort Ihnestraße“ an der FU Berlin nun über die Untaten auf, die Wissenschaftler hier in der NS-Zeit begangen haben

Foto: Bernd Oertwig/SCHROEWIG/picture alliance


Hildegard B. kam 1922 in Berlin auf die Welt und wuchs in Armut auf. Sie galt als unangepasst und erfuhr Gewalt. 1934 attestierte ihr ein Amtsarzt „angeborenen Schwachsinn“, die Diagnose bildete die Grundlage für ihre Zwangssterilisation, nachdem sie 1938 in die berüchtigten Wittenauer Heilstätten eingewiesen worden war. Nach mehreren Verlegungen verliert sich ihre Spur. Wahrscheinlich wurde sie im Rahmen der T4-Aktion des NS ermordet.

Hildegard B., aber auch das Schicksal von Agnes W. oder der Sinti-Familie Mechau erinnern an das Wirken von Wissenschaftlern, die im Namen „seriöser“ Forschung und mit den modernsten Methoden der damaligen Humanwissenschaft Menschen vermessen, bewertet und selektiert haben. Über 400.000 Zwangssterilisationen gingen auf deren Konto. Nach langem Vorlauf und vielen Widerständen eröffnete nun der Rektor der FU Berlin, Günter Ziegler, Mitte Oktober die Dauerausstellung Erinnerungsort Ihnestraße in Berlin-Dahlem mit einem Wort Johann Peter Hebels: „Es gibt Untaten, über die kein Gras wächst.“ Selbst das Gras über den 16.000 Knochenfragmenten, die im Institutsgarten verscharrt wurden, ist inzwischen abgetragen.

Medizinische Beamte wurden hier darin geschult, erwünschte und unerwünschte Menschen zu unterscheiden

Im ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) in der Ihnestraße 22, heute Sitz des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft, erzählen nun auf vier Stockwerken und mehreren Außenstationen Bildtafeln, Tonträger und andere Medien von diesen Untaten und von einer wissenschaftlich verbrämten Rassenlehre und Eugenik, unter deren Ägide „unwerter Nachwuchs“ verhindert beziehungsweise vernichtet wurde. Erbbiologen wie der Institutsbegründer Eugen Fischer oder Otmar von Verschuer, der später enge Verbindungen zum Lagerarzt Josef Mengele in Auschwitz unterhielt, schulten medizinische Beamte darin, erwünschte und unerwünschte Menschen zu unterscheiden. Im heutigen Seminarraum UG 2 fanden die berüchtigten Zwillingsuntersuchungen statt mit dem Ziel, den Einfluss von Genen und Umwelt auf Phänotyp und Intelligenz zu bestimmen. Die Wissenschaftler dienten dem Staat, und dieser profitierte von deren Forschung.

Projektleiterin Manuela Bauche erinnerte bei der Eröffnung auch daran, dass Eugenik keine Erfindung der Nationalsozialisten war und im Hinblick auf die pränatale Diagnostik bis heute brisant ist. An dem Projekt waren auch Opferorganisationen beteiligt. Israel Kaunatjike als Vertreter der OvaHerero mahnte Studierende und Lehrende, sich bewusst zu machen, an welchem Ort sie arbeiten.

Doch zur Umgestaltung des Hauses in einen wissenschaftskritischen „Lernort“, den die internationale Wissenschaftscommunity seit Langem fordert, konnte sich die Universität nicht durchringen. In zehnjähriger Arbeit haben die Forschenden die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus aufgearbeitet, was auf dem Festakt nicht einmal eine Erwähnung wert war.

Unverständlicher noch, dass deren Nachfolgeorganisation, die Max-Planck-Gesellschaft (MPG), keinen Vertreter entsandte, um die Ausstellung mit einem Grußwort zu begleiten, obwohl MPG-Vizepräsident Christian Döller anwesend war. Sein Kollege Arno Villringer hatte noch im November vergangenen Jahres anlässlich der Vorstellung des Berichts der Lancet-Kommission zu Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust eine aktive Erinnerungspolitik der MPG eingefordert. Vielleicht hofft man in der Geschäftsstelle in München doch auf das Gras, das über die dunkle Vorgeschichte der MPG wächst.

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