Ein Teufelskreis heißt Teufelskreis, weil sich mehrere Einflussfaktoren gegenseitig negativ verstärken und so die Lage immer weiter verschlechtern. Ein Sicherheitsdilemma ist auch ein solcher Teufelskreis. Es entsteht, wenn Akteur A unsicher ist wegen des Verhaltens von Akteur B, darauf mit Aufrüstung reagiert, und Akteur B sich dadurch ebenfalls bedroht sieht und seinerseits aufrüstet. Eine solche Rüstungsspirale kann sich bis zu einem Krieg hochschaukeln und konterkariert jede Sicherheitspolitik. Weil es keine von allen anerkannte oberste Entscheidungsinstanz gibt, agieren Staaten gemäß ihrer „nationalen Sicherheitsinteressen“. Werden diese als bedroht wahrgenommen, kann sich der Teufelskreis in Bewegung setzen, wird er nicht durch kluge Diplomatie eingehegt oder – besser noch – durchbrochen. Die tatsächliche oder angenommene Bedrohung hängt mit zwei Faktoren zusammen: den Absichten und den Fähigkeiten des potenziellen Gegners.
Im Ukraine-Krieg ist bisher keine kluge Diplomatie erkennbar. Während der Umstand, dass Russland völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen hat, unstrittig ist, sind die der Aggression zugrundeliegenden subjektiven Absichten umstritten. Will Moskau einen Regimewechsel in Kiew oder die Anerkennung der annektierten, nicht vollständig besetzten Gebiete? Ist zu befürchten, dass Russland nach einem möglichen Sieg auch NATO-Staaten angreift, wie vielfach behauptet? Keine Frage, Absichten können sich ändern. Daraus folgt das Gebot, sie mit großer Nüchternheit ständig auf ihren Realitätsgehalt hin zu überprüfen und mit dem objektiven Vermögen eines Gegners abzugleichen. Ist der überlegen und hat aggressive Absichten, ist die Bedrohung real. Sind seine Fähigkeiten eher schwach ausgeprägt, kann eine defensiv gemeinte „Nachrüstung“ von diesem Gegner als aggressiver Akt wahrgenommen werden und den Teufelskreis von Aktion und Reaktion beschleunigen.
So ist es mit der von der Regierung Scholz als „Nachrüstung“ verkauften Entscheidung, ab 2026 weitreichende bodengestützte Raketen, Marschflugkörper und Überschallwaffen der USA in Deutschland zu stationieren. Die dafür reklamierte Fähigkeitslücke existiert zwar in einem Teilbereich der Waffenskala, da Moskau im Gegensatz zu den NATO-Staaten über bodengestützte Systeme von 500 Kilometer und womöglich größerer Reichweite verfügt. Doch besitzt die westliche Allianz genug luft- und seegestützte Waffen, um diesen etwas entgegenzusetzen. Sie sind quantitativ und qualitativ dem russischen Arsenal sogar überlegen. Wenn Jaspar Wieck, politischer Direktor des Verteidigungsministeriums, in einem Video argumentiert, Deutschland brauche die Waffen, um russische Abschussrampen tief im Landesinneren zerstören zu können und so zu verhindern, dass von ihnen Raketen abgeschossen werden, dann mag das abschreckend gemeint sein. Diese Fähigkeit verschärft jedoch vor allem die Instabilität, weil sie den bevorteilt, der möglichst schnell schießt. Die USA könnten zudem von deutschem Boden nuklearstrategische Ziele in Russland ausschalten.
Russland ist der NATO bereits unterlegen
Das so erhöhte Risiko für Deutschland ist auch deshalb unnötig, weil der Westen militärisch überlegen ist. Der britische Generalstabschef Sir Anthony Radakin brachte dies kürzlich auf den Punkt: „Der wichtigste Grund, warum Putin keinen Krieg mit der NATO will, ist der Umstand, dass er ihn schnell verlieren würde.“ Ein Blick auf die Kräfteverhältnisse unterstreicht diese Aussage. Wie das Internationale Institut für Strategische Studien in London resümiert, hat die NATO eine 3:1-Überlegenheit bei aktiven Bodentruppen und Kriegsschiffen sowie ein 10:1-Verhältnis bei Luftstreitkräften. Für die europäischen NATO-Staaten – ohne die Türkei – lautet die Überlegenheit bei den Bodentruppen 2:1 und bei den Kampfflugzeugen 3:1. Russland ist wiederum an Bodentruppen den direkt angrenzenden NATO-Staaten 3:1 überlegen, aber nicht bei Schiffen und Flugzeugen. Nur gegenüber den drei baltischen Staaten verfügt es über ein massives Übergewicht – nur sind die NATO-Mitglieder. Könnten russische Streitkräfte sie nicht trotzdem überrennen? Auszuschließen ist das nicht, aber würde damit das Risiko eines NATO-Gegenschlags eingegangen, der das politische System in Russland bedrohen würde.
Die Performanz im Ukraine-Krieg und die erlittenen Verluste lassen Russland heute militärisch schwächer dastehen als vor Kriegsbeginn. Es verfügt zwar über eine Kriegswirtschaft und steckt sechs Prozent seines Bruttoinlandsprodukts ins Militär, Tendenz steigend, aber auch der Westen steigert seine Rüstungsausgaben seit Jahren und setzt das fort. Angesichts der größeren Wirtschaftskraft wird sein militärisches Übergewicht wachsen. Vor diesem Hintergrund besteht die reale Bedrohung nicht darin, dass Russland nach einer wenig wahrscheinlichen ukrainischen Niederlage das Baltikum angreift, sondern der Krieg außer Kontrolle gerät. Sei es, weil Moskau überreagiert oder Missverständnisse zu ungewollter Eskalation führen. Man sollte bei aller konventionellen Asymmetrie nie vergessen, dass man es immer noch mit der mächtigsten Nuklearmacht der Welt zu tun hat. Es ist also höchste Zeit für kluge Diplomatie, um den Teufelskreis der Bedrohung zu durchbrechen. Ein Moratorium bei bodengestützten Mittelstreckensystemen wäre ein erster Schritt. Kanzler Scholz sollte sich in Washington und Moskau dafür einsetzen. Dies wäre dem Friedensauftrag des Grundgesetzes mehr als angemessen.