An einer Stelle im Videogespräch erklärt Niko Paech, dass der Computer auf seinem Tisch aus dem Elektroschrott der Uni Siegen stamme. Er forscht und lehrt dort zu Nachhaltigkeit und Postwachstumsökonomie. Den Rechner hat er repariert, das Betriebssystem ist lizenzfrei. Im Kern geht es Paech um einen Freiheitsbegriff als Basis eines ethischen Lebens. Dafür müsse jeder selbst überprüfen, wie viel Ressourcen er oder sie verbrauchen sollte.
der Freitag: Herr Paech, eine der Grundlagen für Postwachstum ist Genügsamkeit. Haben Sie den Eindruck, dass das eine prima Perspektive ist, um die Theorie unter die Leute zu bekommen?
Niko Paech: Grundlage der Postwachstumsökonomie ist die Thermodynamik. Und eine darauf fußende wachstumskritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine Konsequenz, wenn wir den ökologischen Kollaps doch noch abwenden wollen, ist in der Tat die Hinwendung zur Suffizienz …
… also zu reduziertem Konsum, um Ressourcen zu schonen.
Ja, und das lässt sich als Genügsamkeit bezeichnen. Nur wird die nicht selten mit Verzicht, Armut und Rückständigkeit oder einem Rückfall in Knappheitsszenarien in Verbindung gebracht. Aber das ist unzutreffend. Wir leben längst in Zeiten einer Überforderung durch Entscheidungsdruck und Optionenvielfalt als Resultat der immens gestiegenen realen Kaufkraft. Wir stehen also nicht nur vor äußeren, sondern auch vor inneren Wachstumsgrenzen.
„Befreiung vom Überfluss“, der Titel Ihres neu aufgelegten Buches, ist auch ein moralisches Gebot, oder?
Ich halte eine verantwortungsethische Logik für nicht verhandelbar. Der Planet, auf dem wir leben, ist physisch begrenzt, und industrieller Wohlstand kann nicht von ökologischen Schäden entkoppelt werden. Wenn dann unsere Lebensgrundlage dauerhaft erhalten bleiben soll und wir globale Gerechtigkeit anstreben, existiert eine Obergrenze für den von einem einzelnen Individuum beanspruchten materiellen Wohlstand.
Wer gibt Menschen das Recht, wachsenden Wohlstand zu beanspruchen, der nicht auf Arbeitsleistung, sondern auf Substanzverzehr beruht?
Sie diskutieren dazu eine Form von Leistungsgerechtigkeit. Was meinen Sie damit?
Ausnahmslos jeder käufliche Wohlstand ist materiell, beruht also auf physischen, insbesondere energieumwandelnden Prozessen. Dienstleistungen und die Digitalisierung haben den physischen Verschleiß nur weiter gesteigert. Welche physische Arbeitsleistung steht nun diesem seit der Steinzeit hundertfach gesteigerten Reichtum gegenüber? Menschen verarbeiten Informationen und generieren Wissen. Die Differenz zwischen beanspruchter physischer Leistung und eigener physischer Leistung ist enorm gewachsen und das ist allein industrieller Technologie und globaler Entgrenzung geschuldet. Also reiner Plünderung. Wer gibt Menschen das Recht, wachsenden Wohlstand zu beanspruchen, der nicht auf Arbeitsleistung – und hier bin ich anderer Meinung als Karl Marx –, sondern auf Substanzverzehr beruht?
Ihre Kritik an Arbeit und Leistung versteht Gerechtigkeit mehrdimensional.
Ja, und dafür müssen wir uns anschauen, dass die Bildungsexplosion, insbesondere der Akademisierungswahn, jede Äquivalenz zwischen materiellem Wohlergehen und eigenem materiellen Beitrag zerstört hat. Das ist in einem materiell begrenzten System weder durchhaltbar, noch kann es gerecht sein. Während der aufgetürmte Wohlstand immer materieller wird, wird die vermeintliche Gegenleistung zunehmend entmaterialisiert. Mein Einkommen als Yogalehrer oder Webdesigner gebe ich doch nicht aus, um wiederum selbst Yogastunden und Unterricht in Webdesign zu nehmen, sondern um zu reisen, ein schönes Haus zu bauen und die Kinder mit Spielkonsolen zu versorgen. Der große Fehler aller meistens links orientierten Gerechtigkeitsdiskurse besteht darin, immer nur eine horizontale Dimension zu betrachten und keine vertikale.
Was meinen Sie mit vertikaler Gerechtigkeit?
Die Physikvergessenheit reicht vom Neoliberalismus bis zum Marxismus und strandet in einem Widerspruch: In beiden Fällen wird versucht, etwas zu verteilen, was in einer gerechten Welt gar nicht hätte entstehen dürfen. Weil es auf Plünderung beruht. Was Menschen maximal beanspruchen können, leitet sich aus der Vermeidung dieser Plünderung ab und nicht aus dem Vergleich mit anderen. Vertikale Gerechtigkeit bedeutet also eine absolute Obergrenze für individuellen Wohlstand.
Der Großteil der Bevölkerung der Industrieländer will nicht einmal wahrhaben, dass unser Konsum auf Ausbeutung fußt. Wie wollen Sie da Menschen von Ihrem Gerechtigkeitsbegriff überzeugen?
Die meisten Menschen wollen das durchaus wahrhaben, erkennen aber nicht an, deswegen genügsamer leben zu müssen. Sie beschwören lieber technologische Lösungen. Und die proklamieren, dass andere auch so leben könnten wie wir. Das kann man als moralische Kompensation verstehen. Jetzt sollen in Namibia Wasserstofffabriken gebaut werden, um Wohlstand zu sichern, der zugleich für Menschen in Afrika verfügbar sein soll. In diesen technizistischen Konsens reihen sich alle Parteien ein. Es wird nur darüber gestritten, wie die Finanzierung erfolgt, welche Rolle der Markt spielt, ob der Staat eingreifen soll.
Meine Arbeit richtet sich an funktionale Eliten, die exemplarisch vorwegnehmen, was früher oder später auch für den Rest der Gesellschaft unabdingbar werden wird
Warum spielt der Umstand, dass die Entkopplung von Umweltschädigung und Wirtschaftswachstum nicht funktioniert, keine größere Rolle im Diskurs?
Das Vertrauen darauf, in der Zukunft innovative Problemlösungen zu finden, bildet den ideologischen Überbau einer Gesellschaft, deren Wohlstand und Technisierung zu einer immensen Verkümmerung und Versorgungsabhängigkeit geführt hat. Deshalb grassiert eine panische Angst vor Verlusten. Die wird in Politik übersetzt. Das ist die Systemlogik spätmoderner Konsumdemokratien, der sind alle Parteien ausgesetzt: Entweder Geschenke verteilen und dafür gewählt, oder keine Geschenke verteilen und abgewählt zu werden. Es wäre überlebenswichtig, Ansprüche zu reduzieren, aber das stellt eine furchteinflößende Überforderung dar, weil wir die Fähigkeit verlernt haben, mit weniger Wohlstand und Technologie ein würdiges Leben zu führen. Deshalb bildet die Wachstumsorientierung der Parteien ein perfektes Spiegelbild der Lebensrealität der Wählermehrheit.
Haben Ihre Modelle den Anspruch, umsetzbar zu sein?
Alle Entwicklungsschritte, die das Konzept der Postwachstumsökonomie nahelegt, sind unabhängig von technologischen und politischen Wundern, weil sie auch unilateral oder von überschaubaren Gruppen umgesetzt werden können. Die Versprechen eines grünen Wachstums beruhen dagegen auf magischem Denken. Mein Konzept wendet sich nicht an eine gesellschaftliche Mehrheit, die sich eine Zukunft als optimierte Gegenwart vorstellt. Sondern an jene Minderheiten, die schon heute willens und fähig sind, postwachstumstaugliche Versorgungs- und Daseinsformen zu praktizieren. Meine Arbeit richtet sich an funktionale Eliten, die exemplarisch vorwegnehmen, was früher oder später auch für den Rest der Gesellschaft unabdingbar werden wird. Das heißt, wenn wir ein an Menschenrechten, Humanismus, Freiheit und Demokratie orientiertes Leben aufrechterhalten wollen, muss es definitiv suffizienter sein. Das erscheint mir wichtiger, als der Bevölkerung weiterhin fortschrittstrunkene Lebenslügen des grünen Kapitalismus aufzutischen. Kein seriöser Wissenschaftler hat eine auch nur theoretisch konsistente Erklärung dafür, wie die aktuelle Daseinsform fortgesetzt werden könnte. Die Beerdigung unseres Wohlstandsmodells durch eine fröhliche Grabrede zu erleichtern, halte ich für eine notwendige Aufgabe. Die übernehme ich, weil sich andere davor drücken.
Weniger abhängig von technisierter Industrie und globaler Versorgung zu sein, bedeutet, Freiheit wiederzuerlangen
Der Philosoph Kohei Saito sagt uns eine Art Kriegskommunismus voraus. Welche Rolle spielt in Ihrem Denken der Staat in der eskalierenden Klimakrise?
Kriegskommunismus bedarf diktatorischer Verhältnisse. Außerdem würde mit einer Kriegswirtschaft, die darauf beruht, rationierte Güter zu verteilen, das Hauptproblem, nämlich die Industrie- und Konsumabhängigkeit, gerade nicht gelindert. Es würde nur die Marktabhängigkeit durch eine Staatsabhängigkeit ersetzt werden. Eine Postwachstumsökonomie würde darauf setzen, Menschen durch Befähigungen und eingeübte Praktiken der Suffizienz und teilweise durch Selbstversorgung von der Industrie zu emanzipieren. Weniger abhängig von technisierter Industrie und globaler Versorgung zu sein, bedeutet, Freiheit wiederzuerlangen.
Was bedeutet Freiheit für Sie?
Freiheit lässt sich prinzipiell nur als Negativdefinition konsistent darstellen, als Freiheit von etwas. Der Aufbruch in die Moderne war von der Idee beherrscht, sich von Schicksalsabhängigkeit zu befreien, genauer: von der Vorherrschaft des Klerus, des Adels, von Unmündigkeit, aber auch vom Mangel, von der Arbeitsplackerei, von der geringen Lebenserwartung oder vom Schmutz. Aber wir haben einen Kipppunkt überschritten, an dem die Freiheit von etwas in eine Freiheit für etwas umdefiniert wurde, um die moderne Steigerungslogik unbegrenzt fortsetzen zu können. Nun haben ausgerechnet die dafür entwickelten technologischen und ökonomischen Mittel – und das ist die Pointe – durch diverse Nebenwirkungen eine neue Schicksalsabhängigkeit und Unfreiheit erzeugt.
Was resultiert daraus?
Heute sind Menschen nicht mehr in der Lage, ohne Digitalisierung, Fernreisen und astronomischen Konsum eine hohe Lebensqualität zu erreichen. Diese Pathologie kann von keinem Staat behoben werden, sondern nur durch individuelle Kompetenzen und Fähigkeiten, die wiederum Übung und soziale Prozesse erfordern. Es müsste in Kollektiven entwickelt und reproduziert werden, was Menschen aus der Abhängigkeit von Industrieproduktion und Technologien befreien könnte. Das wäre für mich ein Freiheitsprojekt des 21. Jahrhunderts.
Niko Paech (geboren 1960) lehrt seit 2016 an der Universität Siegen, 2018 wurde er zum außerplanmäßigen Professor im Fachbereich „Plurale Ökonomik“ ernannt. Diese markiert ihren Abstand zu den herkömmlichen Wirtschaftswissenschaften noch besser im Englischen: „Real World Economics“. Der Volkswirt arbeitete zudem als Unternehmensberater für ökologische Lebensmittel. Hier nachlesbar ist ein Gastbeitrag, den Paech 2021 im Freitag schrieb.