Das ist ein grotesker und ein böser, vor allem aber ein verdammt komischer Roman. Man kann den Inhalt in einem Satz zusammenfassen: Eine Frau hat ihren Mann und das gemeinsame Kind für einen Liebhaber verlassen, der es dann aber auch nicht bringt, und seither ist die Welt in Unordnung. Die Protagonistin versucht, das Geschehene zu rekapitulieren, sich Rechenschaft über die Trennung abzulegen, und dabei richtet sie ein gewaltiges erzählerisches Chaos an. Nicht ich lautet der Titel dieses Werks, und es handelt sich dabei um das Debüt der mittlerweile weltbekannten israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Vor beinahe 30 Jahren war es auf Hebräisch erschienen, jetzt erst erscheint es auch in deutscher Übersetzung. Wer das neue Jahr mit der Einnahme einer bewusstseinsverändernden Substanz beginnen möchte, braucht keine Pillen, sondern kann gleich zu diesem Buch greifen.
Wer spricht hier überhaupt? Wir kennen nicht einmal den Namen dieser Ich-Erzählerin, mal wird sie Galia, mal Varda, dann wieder Nurit genannt. Die Verrücktheit, mit der sie uns ihre Geschichte auftischt, folgt einer sehr eigenen, sehr deutungsbedürftigen Logik. Wir finden keine stringente Handlung vor, nur surreale, lose miteinander verbundene Episoden, die um die kaputten Beziehungen zu ihrem Ex-Mann, ihrem Ex-Liebhaber, zu ihren Eltern und ihrer Tochter kreisen. Ein paar Kostproben: Die Eltern behaupten, die Protagonistin sei, obgleich Mutter, noch Jungfrau, weshalb sie ihr einen Strichjungen schicken, um Abhilfe zu schaffen. Der Vater verwandelt sich in eine Kuckucksuhr und tritt nur zur vollen Stunde aus seinem Zimmer, um etwas zu rufen. Nach der Trennung hat der Ex-Mann eine Gebärmutter. Die Erzählerin wiederum verliert alle ihre Haare. Der Ex-Liebhaber ist impotent und so müde, dass er tagsüber nur genau fünfzehn Minuten wach sein kann. Die fünfjährige Tochter, die sie verlassen hat, ist in der Erinnerung ein Monster, dann wieder ein Engel, schließlich eine kalte Puppe, die man vergeblich zu beleben versucht. Unsere Rabenmutter pflanzt Teddybären und Spielzeuge auf dem Straßenasphalt, manchmal streift sie dabei ein Lkw. Reflexionen über die Beschaffenheit männlicher Geschlechtsorgane weichen Szenen einer Strafkolonie: Die namenlose Protagonistin ist entführt worden, Häftlinge verüben Selbstmord, sie wird dort sehr streng, aber völlig sinnlos verhört. Mit einem Mal finden wir sie auf einem Berg wieder, umgeben von zehn muskulösen Männern, dann von unzähligen Töchtern, die sie gar nicht hat, aber die verschwinden auch schnell wieder.
Kurzum: Wir sind in einen langen Traum geraten. Wer das Gefühl kennt, lachend aufzuwachen, weil die nächtlichen Szenen vor dem inneren Auge von besonders bizarrer Pracht waren, wird beim Lesen dieses Romans etwas ganz Ähnliches erleben. Aber es braucht eine Weile, um wirklich zu begreifen, was Zeruya Shalev hier anrichtet: Hier wird die Traumtheorie von Sigmund Freud konsequent in Literatur überführt. Wie ein Traum ist Zeruya Shalevs Nicht ich von „Verdichtung“ und „Verschiebung“ geprägt. Der Vater als Uhrwerk? Damit wird er zum Sinnbild der Ordnung, zum Gesetzesparagrafen schlechthin metaphorisiert und schrumpft gleichzeitig zum lächerlichen Alltagsgegenstand. Vielleicht wird aber auch auf die europäische Herkunft dieser Familie verwiesen. Oder auf den Zwangscharakter, die unbarmherzige Taktung der modernen Welt? Und der unbändige Hass auf die Tochter, der jederzeit in unbändige Liebe umschlagen kann? Womöglich ist dies nur die Verschiebung der eigenen Unausgeglichenheit auf das Kind.
Man deutet beständig, wenn man diesen wilden Roman liest. Die Vergeblichkeit der Entschlüsselung ist letztlich sein eigentliches Thema. Hat die Heldin das Kind wegen einer neuen, großen Liebe verlassen oder wegen umfassender Beziehungsunfähigkeit? Welche Rolle spielt hier ihr Vater? Hat er sie womöglich missbraucht, als „er seine kalte Hand“ auf das Haar der Zwölfeinhalbjährigen legte? Oder war es eine harmlose Geste? Hat sie ihre Tochter womöglich gar nicht verlassen? Ist es wirklich nur eine Schutzbehauptung, als sie einmal bemerkt, Soldaten hätten ihr Kind entführt? Und stimmt nicht in gewisser Weise beides? War das Zerbrechen der Ehe so unausweichlich, dass es ihr im Nachhinein wie fremdbestimmt erscheinen musste? Man sucht die Wirklichkeit hinter diesem Bewusstseinsstrom und kommt ihr nur sehr unvollständig näher. Nur eines ist hier sicher: Der Beziehungsstatus dieser Frau ist notorisch kompliziert. Sie debattiert in einer flüchtigen Szene mit ihrem Mann, ob sie es noch einmal versuchen sollten. Seit der Trennung, klagt sie, sei ihr Sexleben ruiniert. „Wie geht denn das?“, fragt der Mann verwirrt, „du hattest doch kaum Sex mit mir, wie ist dein Sex dann ohne mich zerstört?“ Das sei doch klar, erwidert die Frau, anscheinend habe sie nur Interesse am Sex, wenn sie ihn hintergehen könne, wenn sie ihn betrüge. Wie begriffsstutzig doch Männer sein können!
Die heute 64 Jahre alte Schriftstellerin ist mit deutlich konventionelleren Eheromanen bekannt geworden. Liebesleben (2000), das von der Liebe zu einem älteren Mann handelt, wurde weltweit rezipiert und erfolgreich verfilmt. Das Zerbrechen einer Liebe umkreiste sie in Mann und Frau (2001), die Schwierigkeiten eines reifen Beziehungsglücks in Späte Familie (2005). In späteren Werken wichen die lebhaften Neurosen ihrer Figuren einer gewissen Abgeklärtheit, der Wunsch nach Stabilität verdrängte die Sehnsucht nach der ganz großen Liebe. Auch verknüpfte Zeruya Shalev die Beziehungsdramen mit der schwierigen politischen Lage in Israel und dem Terror, der das Land immer wieder heimsucht. Ein Thema, das in Nicht ich bereits in wenigen militärisch-sadistischen Szenarios anklingt.
Diesen ersten Roman, glänzend übersetzt von Anne Birkenhauer, werden manche für überdreht halten, andere aber für eine flirrende Offenbarung: Hier zeigt sich ein psychedelischer Liebesrausch, ein Gefühlschaos, aus dem in Zeruya Shalevs Werk eine altersweise Ordnung erwuchs. Es mag eine Generationenfrage sein, welcher der beiden Aggregatzustände einem mehr behagt.
Zeruya Shalev: Nicht ich. Roman; a. d. Hebräischen v. A. Birkenhauer; Berlin Verlag, Berlin 2024; 208 S., 24,– €, als E-Book 19,99 €
Das ist ein grotesker und ein böser, vor allem aber ein verdammt komischer Roman. Man kann den Inhalt in einem Satz zusammenfassen: Eine Frau hat ihren Mann und das gemeinsame Kind für einen Liebhaber verlassen, der es dann aber auch nicht bringt, und seither ist die Welt in Unordnung. Die Protagonistin versucht, das Geschehene zu rekapitulieren, sich Rechenschaft über die Trennung abzulegen, und dabei richtet sie ein gewaltiges erzählerisches Chaos an. Nicht ich lautet der Titel dieses Werks, und es handelt sich dabei um das Debüt der mittlerweile weltbekannten israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Vor beinahe 30 Jahren war es auf Hebräisch erschienen, jetzt erst erscheint es auch in deutscher Übersetzung. Wer das neue Jahr mit der Einnahme einer bewusstseinsverändernden Substanz beginnen möchte, braucht keine Pillen, sondern kann gleich zu diesem Buch greifen.