„Neuland“: Hamburg ist die Hölle (Familie aber auch)

Hauke haut gern mal, Karen hat immer einen
Flachmann und Fluppen in der Bauchtasche, Sarah erlaubt sich, nicht zu essen, und schreibt einen Family-Blog und die Mutter Marie, tja, Marie – sie scheint
einfach alles im Griff zu haben. Es gibt eine neue Serie im ZDF. Neuland heißt sie, und es dauert ein bisschen, bis man zu jener Empathie für all die
Charaktere darin findet, die ein erfreuliches TV-Erlebnis benötigt. Denn wer es
nicht schon wusste, der weiß es nach dieser Show: Familie, das ist die Hölle.

Wir befinden uns im reichen, fiktiven
Hamburger Vorort Sünnfleth, wo Architekten verglaste Wohnkästen hingesetzt haben
und Familien SUV fahren, um darin unangreifbar zu sein. Es gibt eine Altstadt,
in der Buchhändler ums Überleben kämpfen, Polizisten, die wegschauen, und eine
Grundschule, in der ein Elternbeirat mitgestalten will. Dessen Mitglieder
packen zwar Spendenkartons für geflohene Kinder, wollen dann aber doch nicht,
dass diese Kinder im Unterricht neben den eigenen sitzen.

Alexandra, alleinerziehende Mutter zweier
Töchter, die den erwähnten Buchladen von ihrem Vater übernommen hat, ist über
Nacht verschwunden. Bei gutem Wein und mit betroffenen Mienen beratschlagen ihre
Freundinnen, was nun mit den beiden Kindern zu tun ist. Doch im Multivan zur
Schule sind ja immer zwei Plätze frei, und so lächeln sich die Familien durch
die Tage, denn es muss doch irgendwie weitergehen.

Vor dieser gruselig-perfekten Kulisse
tummeln sich Menschen, die Morgenmantel tragen, perfekt frisierte Frauen,
Verlegerinnen, Stay-at-home moms mit abgeschlossenem Architekturstudium
und neuerdings die Soldatin Karen (Franziska Hartmann) mit einer posttraumatischen
Belastungsstörung, die sie sich in Afghanistan geholt hat. Sie kommt in Uniform
zurück in das Örtchen, das sie einst fluchtartig verlassen hatte. Denn die
verschwundene Alexandra ist ihre Schwester, und irgendjemand muss sich um die
beiden Töchter Lea und Zoe kümmern.

Karen will nicht bleiben, zieht sich die
Basecap immer tiefer ins Gesicht, knirscht mit den Zähnen, scheint immer in
Kampfbereitschaft und stellt sich letztlich doch ihrer Vergangenheit. Die
Freundinnen Sarah (Mina Tander) und Miriam (Peri Baumeister) erliegen ihrem
Helfersyndrom, das ihnen Teilhabe ermöglicht, und kämpfen vor allem gegen ihre
Männer, die aus Angst vor Wohlstandsverlust Psychodruck auf die Kinder ausüben
oder nicht fähig sind, einen #MeToo-Skandal angemessen zu reflektieren.

Mehr darf man hier nicht erzählen, denn
vieles klärt sich erst in den letzten Folgen der Serie auf. Das Publikum weiß
lange nichts, es beobachtet nur die Merkwürdigkeiten der Protagonisten. Anneke
Kim Sarnau war schon in vielen Rollen gut darin, Geschichten nur durch das
Zucken ihrer Mundwinkel zu erzählen. In Neuland spielt sie die
Verlegerin Anke Ritter einmal mehr mit unergründlichem Blick und Lächeln. Klar
ist hier nur, dass die Jugendlichen als Einzige einigermaßen gut wegkommen. Sie
sind die emanzipierten, lebensweisen Figuren der Serie.

Nur ganz leicht overdressed für den Vorstadtwahnsinn: die Soldatin und Hamburg-Rückkehrerin Karen (Franziska Hartmann)

Neuland stammt von Drehbuchautor Orkun Ertener, der schon die
Serie KDD – Kriminaldauerdienst entwickelt hat, die in den Jahren 2007
bis 2010 deutsche Fernsehgeschichte schrieb. Nicht als übermäßig erfolgreiches
Projekt, aber doch als eines jener hierzulande seltenen Formate, die keine
Angst vor ihrem Publikum haben. KDD war schnell und abgründig, komplex
und über einen langen Handlungszeitraum erzählt. Ertener gewann damit den
Grimme-Preis, verlegte sich anschließend aber für einige Jahre auf das
Schreiben von Romanen.

Seine Rückkehr als Drehbuchautor (Regie führt in Neuland Jens Wischnewski) erinnert nun an Big Little Lies, eine US-Serie mit Nicole Kidman, in der es
bei einer Grundschulspendengala zu einem Todesfall kommt und sich eine fremde
Frau zwischen überambitionierten Müttern zurechtfinden muss. In beiden Serien
platzen überraschend intime Gewaltdarstellungen in die Handlung und sprengen
die allzu spiegelglatte Vorortperfektion. Sex wird benutzt, um Macht zu
verhandeln, Mütter warten mit verschränkten Armen vor dem Eingang der Schule,
küssen ihre Kinder auf den Kopf und blicken dabei warnend auf die anderen
Eltern.

Neuland fehlen die streckenweise genialen Dialogzeilen
aus Big Little Lies, toll ist aber, welche Bosheiten die
Serie ihren Figuren erlaubt. Maries Mann (Godehard Giese) steht immer unter
Spannung, weil der Sohn nicht genug lernt, der Arbeitgeber einen Kunden
verlieren könnte oder die Frau auch arbeiten will. Ständig droht er zu
explodieren. Christian Erdmann, der den Ehemann der Verlegerin Ritter spielt,
beherrscht sein Gaslighting-Lächeln so perfekt, dass es einem noch im Traum
erscheint. Verstörend ist das alles, aber auch nachvollziehbar in seiner
Darstellung von Ängsten, die viele Menschen um die 40 umtreiben.

Ständig droht in Neuland der
Kontrollverlust, denn auch in Familie und Freundeskreis kann sich niemand sicher
fühlen. Aus Statusdenken entsteht Demütigung, aus Erwartungen von außen ergeben
sich Angriffe nach innen. Und wer immer alles richtig machen will, macht am
Ende fast immer alles falsch. Natürlich kann da nur alles eskalieren, und natürlich ist es das Warten auf diesen Moment, das die Serie so gut und nachfühlbar macht.

Die sechs Folgen von „Neuland“
sind in der ZDF-Mediathek verfügbar.

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