Wer es nicht im Kopf hat, muss es in den Beinen haben, heißt es. Auf Jackson Lamb (Gary Oldman), Leiter des „Slough House“, einer dysfunktionalen Unterabteilung des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, trifft das umgekehrt zu. Er denkt hinter seinen dicken Brillengläsern dermaßen vorausschauend, dass er sich kaum bewegen muss, um seine Fälle zu lösen. Das Handy scheint für ihn und seine knappen Anweisungen erfunden worden zu sein.
Seine bevorzugte Haltung ist: zurückgelehnt auf einem Schreibtischstuhl liegen, die Beine übereinandergeschlagen auf dem Tisch, mal sieht man seine abgetragenen Schuhe, mal die löchrigen Socken, die von Pflastern zusammengehalten werden wie sein Achtzigerjahre-Brillengestell. Meistens raucht er, trinkt Whiskey, isst Fast Food, flatuliert, schikaniert seine Assistentin, eine trockene Alkoholikerin. Das alles ist schon recht dick aufgetragen, doch man schaut Gary Oldman in jeder Szene gerne zu. Jedem seiner Sätze verleiht er einen besonderen Twist, oft scheint er sie aus dunkelster Erfahrungstiefe geradezu auszudünsten.
Ein seufzendes Wrack mit wachem Geist
Von seinen Mitarbeitern will er am liebsten nichts hören und sehen. Sie sollen sich im Slough House, der Bruchbude, der Lamb vorsteht, so lange zu Tode langweilen, bis sie endlich kündigen. Sie alle sind strafversetzt worden, weil sie etwa bei einem Großeinsatz eine Zahlenkombination verwechselt oder eine geheime Akte in der U-Bahn haben liegen lassen. Der Spitzname dieser ins Abseits gestellten Agenten ist „Slow Horses“. Lamb sagt, er sei ein „babysitter for fuckups“, ein Kindermädchen für Versager, und Mick Jagger singt im großartigen Titelsong: „Surrounded by losers, misfits and boozers“. Doch in einer früheren Staffel wurde deutlich, dass Lambs aktuelle Tätigkeit gar nicht so schlecht zu ihm und seiner Vergangenheit im Kalten Krieg passt: Aus tiefer Überzeugung will er verhindern, dass etwas Aufregendes passiert, weil dann auch niemand von seinen Leuten Schaden nehmen kann.
Jackson Lambs lange Haare scheinen von Staffel zu Staffel fettiger zu werden. Schnaufte er anfangs bei seinen seltenen Gängen durch London nur, wenn es bergauf ging, tut er es in der fünften Staffel schon beim Treppenabstieg. Er ist ein seufzendes Wrack mit wachem Geist, eigentlich das Gegenteil von einem Lämmchen.
Die neue, fünfte Staffel treibt die Domino-Ästhetik der früheren auf die Spitze. Eine libysche Terrorzelle verübt mehrere Anschläge in London, dabei geht sie nach einer alten Destabilisierungsstrategie des MI5 vor. Nicht einmal vor Pinguinen im Zoo wird zurückgeschreckt. Lamb sieht irgendwann jeden umfallenden Stein derart präzise voraus, dass es genügt, wenn er plötzlich in einer Seitengasse hinter der libyschen Botschaft die Tür seines heruntergekommenen Autos aufstößt – und er hat die entflohene Terroristin gefasst.
Superschurken und Supertrottel
Nur seine eigenen Leute, das ist eine der vielen Ironien dieser Serie, überraschen ihn immer wieder. Ho (Christopher Chung), ein unvorstellbar dämlicher IT-Nerd, der in der neuen Staffel zum Opfer einer Honigfalle wird und die Terroranschläge erst in Gang setzt, ist tatsächlich unberechenbar. Andere wie die Assistentin Standish (beeindruckend, was Saskia Reeves aus dieser Rolle herausholt) oder der an PTBS leidende Coe (Tom Brooke) sind weitaus cleverer, als sie nach außen wirken. Die Figur der drogenlabilen Shirley (Aimee-Ffion Edwards) wird von Lamb treffend so beschrieben: „Gebt ihr ein Schwert und einen Helm, und ihr habt einen Hobbit.“ Tatsächlich überlebt sie auch in der neuen Staffel die gefährlichsten Schusswechsel und streckt ihre Gegner meist mit Alltagsgegenständen nieder. Der talentierte River Cartwright (Jack Lowden) könnte ein nächster James Bond sein, wenn er nicht permanent vom Pech verfolgt würde (ein herabfallender Farbeimer!) und mit einem ausgeprägten Familienkomplex herumliefe.
Anders als in James-Bond-Filmen gibt es in „Slow Horses“ nicht nur Superschurken, sondern seit zwei Staffeln auch einen Supertrottel, der einer geordneten Welt im Weg steht. Es ist Claude Whelan (James Callis), der politisch genehme Chef des MI5, charmant und anpassungsfähig wie ein Heiratsschwindler, tölpelhaft wie ein Teenager. Seine taffe Stellvertreterin Taverner (Kristin Scott Thomas) verdreht die Augen, wenn sie ihn nur sieht, und kehrt die Scherben zusammen.
In den letzten Monaten gab es bei den Streamingdiensten viele neue Geheimdienstserien: „Special Ops: Lioness“, „The Day of the Jackal“, „The Agency“, „Black Doves“. Sie alle passen in eine Zeit, in der niemand weiß, was auf der Weltbühne als Nächstes geschieht und was die Hauptakteure antreibt. Sie werfen die Frage auf, wie schmutzig man agieren muss, um das Gleichgewicht in einer schmutzigen Welt zu erhalten. Die fiesen Tricks aus dem Kalten Krieg werden zu neuen Tugenden, und analoge Techniken sind wieder angesagt, wenn plötzlich die Computersysteme abstürzen. „Slow Horses“ versucht als einzige dieser Serien eine optimistische Grundhaltung zu bewahren: Die Letzten werden die Ersten sein, zumindest für einen Moment.
Die sechste und siebte Staffel der seit 2022 nach einer Vorlage von Mick Herron auf Apple TV+ ausgestrahlten Serie sind bereits angekündigt. Es ist bemerkenswert, wie schnell hier auf hohem Niveau produziert wird. Ein paar Längen im Mittelteil der fünften Staffel sind allerdings nicht zu übersehen.
Slow Horses läuft auf Apple TV+.
Source: faz.net