Netflix-Hit „Rentierbaby“: Der Comedian und seine Stalkerin

Als Richard Gadd 2016 sein Programm Monkey See Monkey Do für das Edinburgh Fringe Festival schrieb, habe es noch kein #Metoo gegeben, „das Thema sexuelle Übergriffe war noch nicht wirklich im öffentlichen Bewusstsein, erst recht nicht sexuelle Übergriffe bei Männern“, erzählt Gadd. Er war damals 27 Jahre alt und litt unter Panikattacken. Seine Mitbewohner machten sich große Sorgen.

Gadds Show damals – die man nicht wirklich als Stand-up-Comedy bezeichnen kann, obwohl sie den Edinburgh Comedy Award gewann – bestand aus einem sehr persönlichen, erschütternden Bericht über die Vergewaltigung durch einen manipulativen älteren Mann, den er zu Beginn seiner Karriere kennengelernt hatte. Anzuhören und zu sehen, wie seine beruflichen Hoffnungen und Fantasien ausgenutzt wurden und er isoliert und ausgehöhlt zurückblieb, tut förmlich weh.

Richard Gadd macht Comedy, über die man lacht „weil es wahr ist“

Hatten seine Freunde denn keine Angst, dass ihn das erneute Durchleben fertigmachen könnte? Oder dass eine eventuelle gleichgültige Reaktion beim Publikum sein Restvertrauen in andere Menschen zerstören würde? „Ich glaube, in erster Linie machten sie sich Sorgen, weil sie es nicht lustig fanden.“

Gadd ist auf der Bühne und im Videocall auf beiläufige, geistesgegenwärtige und sehr prägnante Weise witzig. Seine Show aber gehört in die Rubrik „man lacht, weil es wahr ist“.

Sein jüngster Wurf, die Miniserie Rentierbaby auf Netflix, wurde binnen Kurzem zum weltweiten Hit. Die Serie ist die Adaption der Ein-Mann-Show, die Gadd drei Jahre nach Monkey See Monkey Do schrieb.

Dass die Geschichte von Rentierbaby auf wahren Begebenheiten beruht, war zuerst gar nicht das, was die Serie so populär werden ließ, im Gegenteil, viele Zuschauer zeigten sich erstaunt. Namen und andere identifizierbare Details wurden geändert – Gadd spielt die Hauptrolle, aber seine Figur heißt Donny –, „emotional aber stimmt alles: Ich habe selbst schweres Stalking und schweren Missbrauch erlitten. Aber wir wollten etwas daraus machen, das Filmkunst ist, gleichzeitig aber die realen Personen, auf denen alles basiert, schützen.“

Im Jahr 2015 begann eine Frau, die nicht namentlich genannt werden kann, aber in Rentierbaby Martha heißt, Gadd zu stalken. In der Serie ist sie etwas älter als er, im wahren Leben waren es ganze zwei Jahrzehnte. Von Anfang an geht von Martha etwas Abschreckendes aus. Donny arbeitet in einer Bar und kann nichts dagegen tun, dass sie ihm stundenlang gegenübersitzt, eine einzige Cola Light trinkt und ihn mit unangenehm präzis beobachteten Komplimenten traktiert. Sie kommt an seine E-Mail-Adresse und schreibt ihm Hunderte von Mails am Tag. Als sie herausfindet, dass er Comedian ist, stört sie seine Auftritte, indem sie im Publikum aufsteht und erzählt, dass sie seine Freundin sei. Es wirkt besonders schräg, weil Gadds Comedy an sich schon unbeholfen und verwirrend daherkommt; man kann sich gut vorstellen, wie die Zuschauer auf diese verstörende Einlage reagierten. Ist die Frau Teil des Stücks? Oder läuft hier ein Comedy-Act aus dem Ruder?

„Rentierbaby“ zeigt psychische Folgen von Stalking

Die Martha der Serie ist eine Fantastin. Sie behauptet vieles, am eindringlichsten aber, dass sie Donny liebt und er sie. Sobald sie erfährt, wo er wohnt, beobachtet sie sein Haus und belästigt seine Ex-Freundin. Stalking ist weitaus verbreiteter, als man glauben mag – die jüngsten Zahlen zeigen, dass allein in England und Wales etwa sieben Millionen Menschen schon mal gestalkt wurden –, aber Gadds Geschichte hat darüber hinaus etwas, das universelle Ängste anspricht. Im Internet passiert viel zwischen Fremden – schnell kommt es zu einer übermäßigen Vertrautheit, die dann in aggressive Fantasien, sexuelle Besessenheit oder Hass und Wut umschlagen kann. Und es bleibt die Frage: Was, wenn sich diese Obsessionen in die physische Welt übertragen? Wie entkommt man jemandem, dem man eben noch zwanglos, weil virtuell, Persönliches enthüllt hat, der dann beschließt, von der einen in die andere Welt zu wechseln? Die Antwort lautet: Es gibt kein Entkommen.

Gadd, heute 34, ist sehr kritisch gegenüber sich selbst und seiner eigenen Rolle in dieser Albtraumdynamik. Die Handlung der Serie stellt die Momente heraus, in denen er die Situation hätte beenden können. Hätte er Martha nie auf eine Tasse Tee einladen dürfen? Man kann daran zweifeln, ob Gadd sich irgendwie „richtiger“ hätte verhalten können, er jedoch ist fest entschlossen, seinen Teil einzugestehen: „Menschen haben Angst davor, Fehler zuzugeben, und die meisten Fehler macht man, weil man gefallen will. Man bleibt bei der Lüge, weil es einfacher ist, so die Spannung einer Situation zu umgehen. Und ich wollte nie jemanden verärgern, der verletzlich ist.“

Nach einem Jahr verschlimmert sich die Situation: Donny sieht sich gezwungen, umzuziehen, damit Martha nicht mehr weiß, wo er wohnt; Martha beginnt sogar, seine Eltern zu belästigen. Zunehmend fühlt er sich am Ende seiner Kräfte, auch weil er zu den sexuellen Übergriffen geschwiegen hat, die er davor erlitten hatte, genau wie Gadd selbst. „Das Schweigen war unerträglich. So etwas durchzumachen und Weihnachten nach Hause fahren zu müssen, ohne dass es jemand weiß …“ Donny tourt in der Comedy-Szene, Martha taucht bei all seinen Auftritten auf und stört. In der Serie sieht man ihn als wirklich furchtbaren Comedian, mit albernen Requisiten, blöden Soundeffekten und schrillem Kostüm entlockt er seinen Zuschauern nur peinliche Lacher. Im wahren Leben war es nicht ganz so schlimm. „Ich glaube nicht, dass ich ein schlechter Comedian war“, sagt er zaghaft, „und ich glaube auch nicht, dass Donny ein schlechter Comedian ist – er präsentiert sich nur falsch.“

Die Situation spitzt sich zu, als sein Agent will, dass er in Edinburgh auftritt. Für Gadd war das Festival lange Jahre ein Highlight: „Die Leute dort lieben verrückte Sachen.“ 2016 aber, nach seinen „sehr quälenden Erfahrungen“ konnte er sich nicht mehr wie gewohnt eine Perücke auf- und falsche Zähne einsetzen.

Das Publikum als Rettung

In der Serie bricht die Geschichte seines erlittenen sexuellen Übergriffs spontan auf der Bühne aus ihm raus. Im wirklichen Leben schrieb er Monkey See Monkey Do. Er erinnert sich an die 45 Minuten vor der ersten Aufführung bei der technischen Probe. „Ich war am Durchdrehen, weil nichts funktionierte, und der Produzent meinte zu mir: ‚Was willst du denn erreichen, Mann?‘ Mit Tränen in den Augen antwortete ich ihm: ‚Ich will es nur überleben.‘ Ich konnte ja nicht ahnen, dass das Programm meine Rettung werden würde. Die Art und Weise, wie die Leute das Stück aufnahmen, wie man mich aufnahm und wie akzeptiert wurde, was mir passiert ist: Das hat mir das Leben gerettet.“

Seine Stalkerin sah sich durch den Erfolg von Monkey See Monkey Do noch mal angestachelt. Sie drohte damit, seine Eltern anzurufen. Gadds Eltern waren weder verklemmt noch schwierig, aber er konnte lange mit ihnen nicht über seine erlebte Vergewaltigung sprechen, auch nicht über seine anschließende Verwirrung über seine sexuelle Identität. Gadd holte sich bei einer Wohltätigkeitsorganisation namens „We Are Survivors“ Hilfe. „Der erste Schritt ist, das Schweigen zu brechen. Manchmal spreche ich mit männlichen Überlebenden, und ich bin kein Therapeut oder Fachmann, aber der erste Ratschlag lautet: Brecht das Schweigen. Redet mit jemandem, und wenn das zu viel Angst macht, schreibt es auf, verarbeitet es zu etwas. Denn je mehr man darüber spricht, desto kleiner wird es.“

Er erzählt auch: „Ich glaube, da ändert sich gerade etwas, aber ich selbst bin noch mit drakonischen Vorstellungen aufgewachsen: Ein Mann weint nicht. Mein Vater war zwar nicht so, aber die gesellschaftliche Erwartung dringt eben tief ins Unterbewusstsein. Wenn man so etwas wie Missbrauch erlebt, kommt ein großer Teil der Hilflosigkeit von solchen alten Vorstellungen, was es bedeutet, ein Mann zu sein. Als ich merkte, dass es eine Form der Stärke ist, sich dazu zu bekennen, dass es einem schlecht geht, war das sehr heilsam.“

Die Rolle der Polizei

Den sexuellen Übergriff hat er nicht bei der Polizei angezeigt. Als Donny in der Serie schließlich Martha anzeigt, sieht man die Erwartungen an die Männlichkeit in ihrer tiefen institutionellen Verankerung, zum Beispiel darin, dass die Polizei automatisch davon ausgeht, dass Donny unmöglich von Martha körperlich bedroht sein könnte. Hinzu kommen allgemeine Unzulänglichkeiten bei der polizeilichen Verfolgung von Stalking: so muss Donny zum Beispiel endlos Marthas Nachrichten durchforsten, um eine eindeutige Bedrohung zu finden, was an sich schon traumatisierend und letztlich unproduktiv ist.

„Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass ich einige gute Polizeibeamte getroffen habe, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie sich kümmern und ihr Bestes geben“, sagt Gadd. Dennoch: „Es gibt ein systemisches Problem mit der Polizei. So war ich mir immer bewusst, wie wenig Ressourcen ihnen zur Verfügung standen; ich konnte förmlich den Stress in ihren Augen und an ihren Körpern sehen. Unsere öffentlichen Dienste sind am Ende. Ich will nicht zu politisch werden, aber ich finde es schockierend, dass es so weit kommen konnte.“

In der Bühnenversion von Rentierbaby wird die Stalkerin durch einen Hocker dargestellt. Monkey See Monkey Do war eine Ein-Mann-Show. Diese Ereignisse mit anderen Schauspielern nachspielen zu müssen – Martha wird von Jessica Gunning in einer absolut umwerfenden Leistung gespielt – war „schwierig“, sagt Gadd vorsichtig. „Es gab Trigger-Momente. Aber man hofft, dass es zu einer Katharsis führt, die weniger aus der Wiederholung kommt, als aus der positiven Reaktion, der Akzeptanz, die die Leute einem entgegenbringen. Einige Szenen, die wir nachgespielt haben, waren wirklich hart – ich konnte beobachten, dass einige aus der Requisite und sogar die Beleuchter ziemlich nervös wurden –, aber wir wussten alle, dass wir auf etwas Wichtiges hinarbeiten. Ich hoffe, dass die Serie letztlich einen Nutzen hat und dass sie ein gewisses Maß an Selbstaufopferung wert war.“

Eingebetteter Medieninhalt

Rentierbaby läuft auf Netflix

Zoe Williams ist Autorin des Guardian

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