Navid Kermani: Wo sie kombinieren Swimmingpool besitzen, werden allesamt Menschen gleich

Dies ist ein Auszug aus „In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika“, dem neuen Buch des Schriftstellers Navid Kermani. Viele der Reportagen, die in diesem Band versammelt sind, wurden
in kürzeren Fassungen für
DIE ZEIT geschrieben.

Die Reichen benötigen keine Bürgersteige.
Wer zu Fuß unterwegs ist, fast ausschließlich das Personal, schlängelt sich an
beiden Seiten des Asphalts entlang. Zum Glück herrscht in Westlands wenig
Verkehr und liegen die Straßen im Schatten der Bäume, die sich hinter den
Mauern erheben. Fast ist es, als gehe oder führe man durch einen Wald. Abends
dann ein seltsamer Effekt: Die Laternen leuchten, dabei sind die Straßen wie
leergefegt, kaum ein Fußgänger mehr unterwegs, ab und zu ein Auto. Wegen der
Mauern ist nicht mal ein erhelltes Fenster zu sehen, dafür sind die Kronen der
Bäume erhellt – für wen? Wo die Bürgersteige hingegen bis in den Morgen belebt
sind, im Zentrum, in den riesigen Slums, im Osten Nairobis, noch in den
Wohnvierteln des Mittelstands, breitet sich mit dem Sonnenuntergang überall
Dunkelheit aus. Zwar gibt es Straßenlaternen, aber schon lange hat die Stadt
nicht mehr die Stromrechnung bezahlt. In den Westlands sorgen die Bewohner
selbst für Generatoren. Vom Himmel aus betrachtet, muß Nairobi nachts wie eine
sehr kleine Stadt aussehen.

Das Buch „In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika“ von Navid Kermani ist im Verlag C.H. Beck erschienen, 272 Seiten, 26 Euro.

Ich bin abends eingetroffen, mit dem Minibus. Die
Mitreisenden kicherten, als ich ihnen die Adresse des Freundes zeigte, bei dem
ich übernachten würde, so wenig paßte das vornehme Ziel zum billigen
Verkehrsmittel. Ausgeschlossen, bedeuteten sie mir, ausgeschlossen, daß ich mir
im Chaos des Busbahnhofs selbst ein Taxi suchen könnte – mit meiner Hautfarbe
und dem großen, silbernen Koffer, noch dazu ohne Ortskenntnisse und lokale SIM-Karte.
Nach längerer Diskussion wurde beschlossen, daß der Fahrer erst alle anderen
aussteigen läßt und anschließend mich zu einer Tankstelle bringt, von wo er per
App ein Taxi bestellt. Mehrfach hielten ihn meine Mitreisenden an, bei mir zu
bleiben, bis er mich dem anderen Fahrer sicher übergeben hätte. Viel
mitsprechen konnte ich nicht, die Diskussion wurde in Suaheli geführt,
lediglich die Ergebnisse bekam ich auf englisch mitgeteilt. Die Fürsorge kam
mir übertrieben vor, aber als ich mich am Busbahnhof umsah und auf der
Weiterfahrt zur Tankstelle in der Innenstadt, war ich doch froh, wie ein Kind
behandelt zu werden, das sich verlaufen hat. So viele Menschen ringsherum, so
viele Autos aus allen Richtungen, und alles im Dunkeln. Ich fragte mich
allerdings auch, was die Fürsorge ausgelöst hatte. Nur daß ich fremd war oder
auch meine Hautfarbe? Oder die Zugehörigkeit zu einer höheren Schicht? Wären
die Mitreisenden mit einem weißen Habenichts genauso freundlich umgegangen, und
mit einem schwarzen ebenso? Auf mich wirkte es wie die reine Mitmenschlichkeit,
aber vielleicht liegt dem Eindruck schon mein kolonialer Blick zugrunde, der
die Klassenunterschiede ausblendet, und nicht nur die Klassenunterschiede,
sondern die Hierarchie der Hautfarben auf der Welt.

Tania Blixen fand die Neger auch sehr nett.

Eine Schranke, uniformiertes Sicherheitspersonal,
Schäferhunde, Überwachungskameras, links und rechts Stacheldraht: das Tor zur
Gated Community. Ein zweites Tor, wieder mit Schranke und Uniformierten, hinter
dem sich das Grundstück befindet: gepflegter Rasen, Dienstwohnungen, der
Parkplatz, die Großküche. Erst als sich die dritte Schranke öffnet – zum
dritten Mal Sicherheitsleute, die mit einer Taschenlampe ins Taxi leuchten – ,
fahren wir vor die Villa. Der Pool wird dahinter liegen, unsichtbar fürs Personal.
Wohnt hier eine weiße Familie oder eine schwarze? Von außen ist das nicht zu
sagen:

Der Reichtum macht gleich, nicht die Armut.
Es geschieht nicht oder so gut wie nicht, daß weiße Menschen in
Flüchtlingsboote steigen oder vor Hunger sterben, an jeder Grenze zur Seite
gewinkt, abgewiesen oder interniert werden, weil allein ihr Paß sie bereits
verdächtig macht. Gab es zu Zeiten des Kolonialismus auch in Europa ein Elend,
das dem in Afrika kaum nachstand, ist die unterste soziale Klasse der
Weltbevölkerung heute ausschließlich farbig beziehungsweise PoC,
wie man es jetzt nennen soll, als ob damit ein Fortschritt erreicht wäre.
Tatsächlich täuscht das technisch anmutende Kürzel darüber hinweg, daß immer
noch Rassen voneinander unterschieden werden, selbst heute in unserer
emanzipierten Welt. Auch deshalb riefen die Bilder aus der Ukraine einen
solchen Schock hervor: weil die Weißen ihre eigene Hautfarbe nicht mehr mit
Hunger, Flucht und bitterer Armut assoziiert hatten. Anderswo auf der Welt sind
dieselben Bilder viel häufiger mit Gleichgültigkeit aufgenommen worden,
vereinzelt sogar mit Häme: Ach, ihr erlebt es auch?

Sicher, Obdachlosigkeit kennt der Westen ebenfalls, sie
nimmt sogar zu, je weniger Menschen es sind, die immer mehr Gewinn erzielen.
Aber Slums mit ungepflasterten Straßen, Müllbergen und offener Kanalisation,
von der Geburt bis zum Tod ein Leben in Wellblechhütten oder in Zelten aus
Plastikplanen? Wenn, dann leben Flüchtlinge darin. Das Ende der Kolonisation
manifestiert sich in Nairobi darin, daß in den ehemaligen Vierteln der Weißen,
die sich über die grünen, malerischen, klimatisch angenehmen Hügel im Westen
der Stadt erstrecken, nun auch reiche Schwarze leben. Umgekehrt, in die
staubige, schattenlose Ebene, die die Kolonialherren einst den Schwarzen
zuwiesen, fand kein Zuzug aus den Westlands statt. Die Struktur der Stadt hat
sich kaum geändert, auch nicht die soziale Apartheid. Das Verkehrsnetz etwa ist
komplett auf Autofahrer ausgerichtet, obwohl keine zehn Prozent der Bewohner
ein Auto besitzen dürften. Unsummen flossen in die Autobahn, die von den
Westlands quer durch, nein: über die Stadt hinweg auf Pfeilern zum Flughafen im
Osten von Nairobi führt. Befahren wird sie kaum, weil sich selbst unter den
geschätzt zehn Prozent Autofahrern nur wenige die Gebühren leisten können. Aber
ob ein Fahrer schwarz ist oder weiß, das ist an den Kassenhäuschen des Highways
egal. Auch in der Gated Community bemerke ich, daß die Bediensteten die
Bewohner gleich welcher Hautfarbe mit Sir oder Madam anreden. Lediglich am Tor
wird ein Unterschied gemacht: Wer weiß ist, den winken die Sicherheitsleute
sofort durch, egal ob sie ihn kennen oder nicht. Ein schwarzer Besucher muß
erst zu erkennen geben, daß er dazugehört. Auf Madagaskar nannten die Menschen
im bitterarmen Süden meinen Begleiter Lova ebenfalls Vazaha, „Weißer“, obwohl
er nur ein Hauptstädter war – aber wie ich im Auto heranfuhr und mit Sneakers,
Sonnenbrille und Dreiviertelhose weitere Insignien des Reichtums trug.

Auf einer Krankenstation der German Doctors in Korogocho, dem drittgrößten Slum von Nairobi,
komme ich mit Sarah ins Gespräch, dreißig Jahre alt, die zufällig in genau der
Gated Community als Hausangestellte gearbeitet hat, in der ich zu Gast bin. 500
Schilling verdiente sie am Tag, umgerechnet etwa drei Euro, die Hälfte davon
mußte sie für die Fahrt aufwenden. Benötige ich mit dem Taxi eine halbe Stunde
für die Fahrt, wechselt sie zwei- bis dreimal den Bus, um schließlich am Rand
des Asphalts den Berg hochzulaufen, zweieinhalb Stunden jedes Mal, für eine
Strecke wohlgemerkt. Der letzte Arbeitgeber war eine indische Familie, die
Leute hätten sie gut behandelt. Aber als erst Sarahs Kind krank wurde und dann
auch noch sie selbst, mußte Sarah ihre Arbeit aufgeben, eine Sozialversicherung
hatte sie natürlich nicht.

Und deine Arbeitgeber?, frage ich, haben sie nicht Hilfe
angeboten? Sie haben doch gesehen, warum du kündigen mußtest.

Sie fragten nicht nach, sondern wünschten nur gute
Besserung, antwortet Sarah.

Ich frage, was ihr durch den Kopf ging, wenn sie morgens in
die Villa trat.

Ich war jeden Morgen frustriert, erinnert sich Sarah: Ich
verstand einfach nicht, warum sie in dieser Welt leben und ich nicht. Warum ich
in Korogocho geboren bin und nicht sie. Aber dennoch mußte ich dahin, und
dankbar sein mußte ich auch. Jetzt habe ich den Job nicht mehr, und das ist
viel schlimmer.

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