Nationalsozialismus: Selbst Geschichtslehrer wissen nichts zusätzlich welche Verfolgung

Seit frühesten Kindertagen musste Ernst ein schweres Schicksal tragen: Seine Familie lebte in Armut, die alleinerziehende Mutter war krank und labil. Also versuchte ihr Ältester, die Not zu lindern. Er „organisierte“ Brot und Gemüse vom Markt sowie „heruntergefallene“ Kohlen am Bahnhof. Kleine Diebstähle, die ihm auch als jungem Erwachsenen das Überleben sicherten – und wegen derer er mehrfach ins Gefängnis musste.

Im Mai 1941 hatte Ernst all seine Strafen verbüßt. Der 33-Jährige wollte zurück ins Leben finden – im mörderischen Weltbild der Nationalsozialisten hatte er allerdings keinen Platz: Für die Nazis war er ein „Asozialer“ und als „Berufsverbrecher“ angeblich per Veranlagung kriminell. Ohne weiteres Verfahren deportierte ihn die Polizei ins Konzentrationslager Flossenbürg. Wie Millionen anderer KZ-Insassen sollte er dort „durch Arbeit vernichtet“ werden. Doch Ernst überlebte die Qualen und beantragte als NS-Opfer 1946 eine Entschädigung – auf dem zuständigen Landratsamt wurde ihm aber mitgeteilt, er sei als Krimineller „zu Recht im KZ“ gewesen.

Für Ernst gingen die Demütigungen also auch nach dem Krieg weiter – und damit war er kein Einzelfall. „Viele Opfer des Nationalsozialismus mussten sehr lange um Anerkennung kämpfen“, sagt Frank Nonnenmacher. Der 80-Jährige hat diesen Kampf zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Seit Jahrzehnten setzt sich der ehemalige Politikdidaktik-Professor für Menschen ein, denen das Stigma anhaftet, dass sie gar keine echten Opfer waren. Dass sie es vielmehr irgendwie verdient hatten, im KZ gelandet zu sein. Dieser „Irrglaube“ habe sich „teilweise bis heute“ gehalten. „Besonders hartnäckig haftet der Verdacht denjenigen an, die als vermeintliche »Berufsverbrecher« oder »Asoziale« deportiert wurden.“

In den Konzentrationslagern wurden sie mit dem grünen oder schwarzen Winkel markiert, nach 1945 durften sie werde auf Verständnis noch auf Entschädigung hoffen

Etwa 80.000 Personen sind auf diese Weise von den Nazis in Konzentrationslager gesperrt worden, schätzt Frank Nonnenmacher. Betroffen waren Arme und Obdachlose, Frauen, die früh schwanger wurden, Suchtkranke und Bettler, Kleinkriminelle wie Ernst, Prostituierte, aber auch invalide Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, die an den Rand der Gesellschaft rutschten. In den KZs wurden sie mit dem grünen oder schwarzen Winkel markiert. Wer den Terror überlebte, durfte jedoch kaum auf Verständnis hoffen – geschweige denn auf eine Entschädigung. Wie kann es sein, dass eine so große Opfergruppe einfach vergessen wurde?

„Diese Menschen wurden nicht vergessen. Sie wurden bewusst verleugnet.“ Frank Nonnenmacher spricht mit fester Stimme. „Die meisten Leute wissen noch immer nichts darüber, wie vielen Opfern die Anerkennung abgesprochen wurde. Selbst unter Geschichtslehrern ist das häufig ein blinder Fleck.“ Nonnenmacher war früher selbst Lehrer, bevor er an der Frankfurter Goethe-Uni als Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften lehrte. Seit seiner Emeritierung im Jahre 2008 kann er sich ganz der Geschichte der „Verleugneten“ widmen. Es ist zugleich die Geschichte seiner Familien: die seines Onkels Ernst, der als sogenannter „Berufsverbrecher“ im KZ saß. Aber auch die seines Vaters Gustav, der als Soldat von den Nazis gefeiert und nach dem Krieg verachtet wurde.

An diesem Mittwochnachmittag hat Frank Nonnenmacher zu sich nach Hause eingeladen, in das schicke Frankfurter Nordend. Er sitzt in der Wohnstube vor der Bücherwand, trägt Jeans, ein gelbes Polohemd, sein grauer Bart ist fein gestutzt. Er erzählt, wie er als junger Mann seinen Vater mit dessen Vergangenheit konfrontierte. „Anfangs war ich gnadenlos, aber er hat sich mir trotzdem gestellt.“ Der Vater, der in einem religiösen Waisenhaus großgeworden war und seinen Halbbruder Ernst kaum gekannt hatte, erzählte dem Sohn, dass er „keine politische Bildung“ bekam und „wegen mangelnder Aufklärung in den Faschismus gerutscht“ sei. Ende der 1960er-Jahre folgten die Gespräche mit Ernst. Neffe und Onkel trafen sich, erst in Mainz, später auch hier, in der neu bezogenen Wohnung im Nordend. Es entstanden stundenlange Tonbandaufnahmen. In den 1980ern lud Frank Nonnenmachers Frau, selbst Lehrerin, den Onkel in ihre Schulklasse ein. „Er war vermutlich der erste Zeitzeuge mit grünem oder schwarzem Winkel, der vor Schülern gesprochen hat.“

„Wir haben es nicht verdient, dass man uns in einem Atemzug mit diesen Elementen nennt“, erklärten ehemalige KZ-Häftlinge noch 1946

Doch Ernst öffnete sich nur einem ausgesuchten Publikum. Wenn Fremde ihn fragten, was er im Krieg gemacht hatte, sagte er lieber, er sei an der Ostfront gewesen. „Das Schweigen war in den meisten Familien normal“, berichtet Frank Nonnenmacher. „Kaum jemand hat über die Verfolgung gesprochen – aus Scham und aus Furcht vor erneuter Abwertung.“ Auch bei Ernst wogen die schlechten Erfahrungen schwer. Mehr noch als an der Reaktion der Behörden lag das am Verhalten seiner ehemaligen Mithäftlinge. Es ist einer der Momente, in denen der nette Plausch in der Wohnstube zu einem sehr ernsten Gespräch wird. Der emeritierte Professor holt seine gut sortierten Unterlagen hervor und zitiert aus einer Erklärung ehemaliger KZ-Häftlinge aus dem Jahr 1946: „Asoziale und kriminelle Elemente schädigen unser Ansehen“, hieß es damals. „Wir haben es nicht verdient, dass man uns in einem Atemzug mit diesen Elementen nennt.“

Diese Sätze wurden auf einer Konferenz sogenannter Anerkennungsausschüsse in Hessen formuliert. Nach dem Krieg mussten die Alliierten deutsche Täter von deutschen Opfern unterscheiden – für diesen Zweck wurden jene Ausschüsse aus überlebenden KZ-Häftlingen gegründet. Die jüdischen Opfer, erzählt Frank Nonnenmacher, hätten sich weniger mit dieser Sache beschäftigt, also wurden vor allem ehemalige politische Häftlinge ausgewählt. Und die machten ihren früheren Kameraden das Leben schwer. Wie konnte es dazu kommen?

Um Personal zu sparen und eine Hierarchie in den Lagern aufzubauen, übergab die SS manche Aufgaben perfiderweise an Gefangene: Im Gegenzug für die Schikane ihrer Mithäftlinge bekamen die Auserwählten als „Kapos“ oder Blockälteste bestimmte Privilegien. Angeblich, so lautete nach dem Krieg die verbreitete Annahme, wählte die SS dabei vor allem kriminelle Häftlinge mit grünem Winkel aus, die dann besonders brutal gegen ihre Mitgefangenen vorgingen. „In Wahrheit setzte die SS Häftlinge aller Winkelfarben als verlängerten Arm ein“, sagt Frank Nonnenmacher. „Vereinzelt agierten Kapos dabei sehr brutal – aber das gab es unter allen Winkelfarben. Ebenso wie es unter allen Gruppen viele Todesopfer gab.“

Schuld waren die anderen: „Gute Kapos“ hier, „böse Kapos“ dort

Nach dem Sieg der Alliierten wurden die Karten neu gemischt. „Die ehemals politischen Gefangenen haben die Verantwortung, dass es auch in den eigenen Reihen Fehlverhalten gab, kurzerhand von sich weggeschoben.“ Schuld waren die anderen: „Gute Kapos“ hier, „böse Kapos“ dort. Die „Politischen“ setzen sich in der Folge dafür ein, dass „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ von jeder Anerkennung ausgeschlossen wurden. 1953 wurde die Diskriminierung sogar in ein Gesetz gegossen: Der Bundestag gewährte nur Personen Wiedergutmachung, die von den Nazis „aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verfolgt wurden. Alle anderen waren demnach zu Recht im KZ.

Diese Haltung änderte sich nur langsam. Erst 1982 erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt den Holocaust an den Sinti und Roma völkerrechtlich an. Im Mai 2008 wurde ein nationales Denkmal für die im NS verfolgten Homosexuellen in Berlin eingeweiht. Und noch drei Jahre länger dauerte es, bis der Bundestag zwangssterilisierten NS-Opfern eine Entschädigung zusprach. Da war eine Anerkennung der als „Berufsverbrecher“ und „asozial“ Gebrandmarkten noch lange nicht in Sicht. Menschen wie Ernst blieben ohne jede Wiedergutmachung – in der BRD ebenso wie in der DDR.

Diese jahrzehntelange Verleugnung habe viel mit Vorurteilen zu tun, sagt Frank Nonnenmacher. Vorurteile gegen Menschen, die in Armut leben, die nicht der sozialen Norm entsprechen oder kriminell werden. Es sind Vorurteile, die bis heute wirken. „Unangepasstes oder gesetzwidriges Verhalten entsteht in der Regel aus sozialer und wirtschaftlicher Not“, weiß Frank Nonnenmacher. „Doch dieser Erklärungsansatz wurde zu keiner Zeit ernsthaft in Betracht gezogen“ Der Grund: „Weil es dann schnell um eine Kritik an den Verhältnissen gehen würde. Weil wir dann anerkennen müssten, dass die Marktgesellschaft eine Konkurrenzgesellschaft ist, die Armut und Not bewusst produziert.“ Also wird die politische Schieflage lieber individualisiert: Schuld sind dann vor allem die Betroffenen selbst.

„Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet“, stellte der Bundestag fest – im Jahr 2020

Trotz aller Widerstände haben Frank Nonnenmacher und seine Mitstreiter:innen vor ein paar Jahren ein großes Etappenziel erreicht: Am 13. Februar 2020, fast 75 Jahre nach Kriegsende, beschloss der Bundestag das eigentlich Selbstverständliche: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.“ Explizit werden auch Menschen mit dem schwarzen und grünen Winkel als „Opfer“ anerkannt. Diesem Beschluss stimmten alle Parteien außer der AfD zu.

Das sei, findet Frank Nonnenmacher, „ein Wendepunkt in der Erinnerungskultur“. Allerdings kommt die Anerkennung für fast alle Betroffenen zu spät. Immerhin ist sie für ihre Nachkommen bedeutsam. „Das beschämte Schweigen kann ein Ende haben. Die Geschichte kann nun aufgearbeitet werden.“ Am 10. Oktober eröffnet in Berlin die vom Bundestag beauftragte Wanderausstellung zum Thema. Bereits im vergangenen März hat Frank Nonnenmacher das Buch Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher«. Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik herausgegeben, in dem Biografien von Opfern mit grünem oder schwarzem Winkel gesammelt wurden – etwa die von Anna Burger: Die Österreicherin lebte in bitterer Armut, stahl Decken gegen die Kälte, um das Überleben ihrer fünf Kinder zu sichern und wurde deshalb 1943 im KZ Ravensbrück mit einer Giftspritze umgebracht. Ebenso handelt das Buch von der Weigerung der Stadt Landstuhl, einen Stolperstein für Emil Braun aufzustellen, den die Nazis als „Asozialen“ im KZ ermordeten.

Außerdem konnte mit Frank Nonnenmachers Hilfe der Verein „für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ gegründet werden. Für sein Engagement erhielt er 2024 das Bundesverdienstkreuz. Inzwischen lebt er mit seiner Frau einen größeren Teil des Jahres in Südfrankreich. Zur Ruhe setzen will er sich aber noch lange nicht. „Wir wissen bisher viel zu wenig über die Verleugneten, es gibt praktisch keine systematische Forschung.“ Deshalb beschloss der Bundestag 2020, „Forschungsarbeiten zu finanzieren“. Geschehen ist diesbezüglich bislang aber nichts. Auf eine kleine Anfrage zum Thema antwortete die Bundesregierung Anfang diesen Jahres, dass „eine zusätzliche Förderung“ derzeit „nicht für erforderlich erachtet“ werde.

Der Kampf geht also weiter. „Es geht um Aufklärung, um Anerkennung – und darum, Vorurteile zu bekämpfen.“ Frank Nonnenmacher findet, dass dieses Erinnern auch wichtig für die Zukunft unserer Gesellschaft sei. „Es ist Teil des Kampfes gegen den aktuellen Faschismus und gegen die AfD.“ Er verlässt die Wohnstube und geht zurück in sein Arbeitszimmer: Dort steht ein Schreibtisch, einige Kisten und ein großes Bücherregal. „Es ist das kleinste Zimmer im Haus, hier kann ich am besten arbeiten.“ Vom großen Fenster blickt er auf die Straße. „Von außen sieht man mich nicht gleich, ich bin gerne Beobachter.“

Ausstellung

Der Bundestag erkannte 2020 nicht nur die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten als Opfer der NS-Gewaltherrschaft an, zudem beauftragte das Parlament die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, eine Ausstellung zu erarbeiten, die Kulturstaatsministerin Claudia Roth nun am 10. Oktober 2024 in Berlin eröffnet. Als Wanderausstellung konzipiert, ist Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945 – heute zunächst in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz, In den Ministergärten 6, 10117 Berlin, zu sehen. Bis Ende Januar 2025 sind Gruppenführungen buchbar, jeden Sonntag gibt es zudem um 13 Uhr eine kostenlose öffentliche Führung. Alle Informationen: die-verleugneten.de

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