Nach Europawahl: Wirtschaft in Ostdeutschland wünscht sich Stabilität

Die Wirtschaft in Ostdeutschland sorgt sich nach der Europawahl und den Kommunalwahlen in mehreren ostdeutschen Flächenländern vor politischer Instabilität und den Folgen für den Wirtschaftsstandort. Vor allem in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, die im Herbst jeweils einen neuen Landtag wählen, ist die Verunsicherung nach der Stärkung der politischen Ränder groß.

„Die Unternehmer sorgen sich mit Blick auf die Regierungsbildung auf Landesebene vor einer Allparteienkoalition“, sagt Joachim Ragnitz, Geschäftsführer der Niederlassung des Ifo-Instituts in Dresden. Ein breites Bündnis könnte nach den Landtagswahlen in den drei Flächenländern im Osten als einzige Variante neben einer Minderheitsregierung verbleiben, ohne die AfD eine Regierung zu bilden.

Instabile Verhältnisse haben Folgen

Am Wochenende haben die Rechtspopulisten der AfD sowohl die Europawahl in Ostdeutschland als auch die Kommunalwahlen in Brandenburg und Sachsen gewonnen. Erfolgreich verlief der Wahlsonntag im Osten auch für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das zum ersten Mal antrat und die Suche nach stabilen Mehrheitsverhältnissen im Herbst noch erschweren dürfte.

„Die Parteienlandschaft in Thüringen wird mit dem Erstarken des BSW noch komplexer, was im Hinblick auf die Landtagswahlen eine mögliche stabile Regierungsbildung in Erfurt noch herausfordernder gestalten dürfte“, sagt Dieter Bauhaus, Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Erfurt.

In Thüringens Landeshauptstadt weiß man spätestens nach den Erfahrungen der vergangenen vier Jahre mit der ersten Minderheitsregierung des Landes unter Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), dass instabile politische Verhältnisse negative Auswirkungen für den Wirtschaftsstandort haben.

Auch in der brandenburgischen Wirtschaft betont man die Bedeutung von politisch stabilen Verhältnissen. „Für die Region gibt es zwei zentrale Faktoren, um den Wirtschaftsstandort attraktiv für Investoren, Ansiedlungen und Fachkräfte zu gestalten: Stabilität und verlässliche politische Entscheidungen“, sagt André Fritsche, Hauptgeschäftsführer der IHK Cottbus.

Eine der umstrittensten Entscheidungen am Wirtschaftsstandort der vergangenen Jahre ist die Ansiedlung des US-Elektrowagenherstellers Tesla in Grünheide. Die AfD, die sich gegen eine Erweiterung der Produktionsstätte positioniert hat, legte bei der Wahl des Kreistags im Landkreis Oder-Spree zwei Drittel zu und erreichte mehr als 30 Prozent der Stimmen.

„Die neuen Mehrheitsverhältnisse werden den Status quo infrage stellen“

In Sachsen fürchtet man nach den Wahlen vom Wochenende die wirtschaftspolitischen Folgen von zunehmend zersplitterten kommunalen Parlamenten. „Die neuen Mehrheitsverhältnisse auf kommunaler Ebene werden den bisherigen Status quo infrage stellen“, sagt Lukas Rohleder, Hauptgeschäftsführer der IHK Dresden.

Stand heute sei unklar, wie zukünftig Mehrheiten gefunden werden können, wenn immer mehr Akteure in die Kommunalparlamente einziehen. „Fakt ist, dass wir uns seit geraumer Zeit in einer wirtschaftlich schwierigen Lage befinden“, sagt Rohleder über die Herausforderungen für Sachsen.

Städte und Landkreise müssten deshalb die Wirtschaftsförderung priorisieren, fordert er. Das bedeute vor allem, beim Thema Fachkräfte zu unterstützen, Flächen auszuweisen, Planungs- und Genehmigungsverfahren zügig abzuwickeln und ein unternehmerfreundliches Umfeld zu schaffen. „Inwieweit die AfD als jeweils größte Fraktion in den ostsächsischen Kommunalparlamenten in der Lage ist, dazu einen konstruktiven Beitrag zu leisten, wird sich zeigen müssen.“

„Der Fachkräftemangel ist im Osten besonders stark“

Beim Verein Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen, in dem sich neben der IHK Dresden mehr als hundert Unternehmen und Verbände engagieren, bewertet man vor allem den Erfolg der Rechtspopulisten bei der Europawahl kritisch. „Sachsen ist ein starker Wirtschaftsstandort, auch weil Sachsen von der EU stark profitiert hat“, sagt Sylvia Pfefferkorn, Vizevorstandssprecherin des Vereins.

Europakritiker wie die AfD seien deshalb keine gute Wahl für den Standort. „Die Bedingungen für Neuansiedlungen werden sich verschlechtern, und das Fachkräfte-Standortmarketing um die besten Köpfe weltweit wird deutlich erschwert.“ Der Wähler riskiere damit den Wohlstand in Sachsen, sagt Pfefferkorn.

„Der Fachkräftemangel ist im Osten besonders stark“, sagt der Ökonom Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut in Dresden. Die demographische Entwicklung schätzt er für die ostdeutsche Wirtschaft als eine der größten Herausforderungen für die Zukunft ein. „Mit dem zunehmenden Arbeitskräftemangel werden die Wachstumschancen stark eingeschränkt“, sagt Ragnitz.

Das stehe auch einem künftigen Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft gegenüber den Unternehmen im Westen im Wege, sagt er zu den innerdeutschen Kräfteverhältnissen. „Den haben wir schon seit zwanzig Jahren nicht mehr, aber es wird in Zukunft noch schwerer sein, so einen Prozess auszulösen“, sagt der Ökonom.

Manche bewerten die Ergebnisse zurückhaltend

Bei Silicon Saxony, der Interessenvertretung der Halbleiterindustrie in Sachsen, die mit Großansiedlungen wie TSMC in Dresden besonders auf den Zuzug von Fachkräften in den Freistaat angewiesen sein wird, bewertet man die Wahlergebnisse vom Wochenende dennoch zurückhaltend.

Die Ergebnisse entsprächen im Wesentlichen den Prognosen und trotz der hohen Stimmenanteile der AfD dürften die Auswirkungen für den Standort überschaubar bleiben, heißt es mit Blick auf die Europawahl. „Für die kommunale Ebene müssen die Gespräche noch abgewartet werden“, teilt ein Sprecher mit. Über mögliche Auswirkungen auf die Landtagswahl im September könne man noch keine Aussagen treffen.

Der Technologiekonzern Jenoptik mit Sitz in Jena, dessen CEO Stefan Traeger sich im vergangenen Jahr als einer der ersten Unternehmer öffentlichkeitswirksam gegen die AfD positionierte, will die Wahlergebnisse und ihre Bedeutung für die Landtagswahl Anfang September in Thüringen nicht bewerten. Als Unternehmen kommentiere man Wahlergebnisse grundsätzlich nicht, heißt es. „Das wollen wir auch jetzt und in Zukunft so beibehalten“, teilt eine Sprecherin mit.

Der Familienunternehmer Max Jankowsky, geschäftsführender Gesellschafter der GL Gießerei Lößnitz , bewertet die Wahlergebnisse als Warnsignal vor der Landtagswahl. „Es bedarf eines Umdenkens in der Wirtschaftspolitik und in der Art der Kommunikation abseits der Großstädte“, sagt Jankowsky, der sich auch als Präsident der IHK Chemnitz für den Wirtschaftsstandort Südsachsen ins Zeug legt.

Die Politik beschäftige sich zu viel mit dem Aufstieg der AfD statt mit den Pro­blemen des Landes, sagt der Unternehmer aus dem Erzgebirge. „Die hohen Energiepreise, der demographische Wandel im Osten, die Daseinsvorsorge auf dem Land. Weil wir nicht über diese Themen sprechen, existiert die AfD überhaupt.“

Ähnlich sieht es Holger Loclair, der Vorstandsvorsitzende und Mehrheitseigentümer des Folienspezialisten Orafol aus Brandenburg. „Die Bundesregierung hat bei der Europawahl die Quittung dafür erhalten, dass ihre Prioritäten nicht mit den Erwartungen und den Wünschen der Menschen übereinstimmen“, sagt Loclair.

Der deutsche Sonderweg etwa bei der Energiewende verunsichere und verärgere die Menschen, sagt der Familienunternehmer. Mit den Wahlergebnissen vom Wochenende verbindet er aber auch eine Hoffnung. „Die hohen Zustimmungswerte für die CDU werte ich als ein wichtiges, positives Signal für den deutschen Wirtschaftsstandort, an dem es schnellstens einen politischen Kurswechsel braucht“, sagt Loclair.

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