Deutschlands größter Stahlhersteller Thyssenkrupp Steel nennt es ein „umfassendes industrielles Zukunftskonzept“, die Betriebsräte sprechen von einem „brutalen Kahlschlagsplan“: Rund 11.000 der 27.000 Stellen in Thyssenkrupps Stahlbereich sollen bis zum Jahr 2030 gestrichen oder ausgelagert werden, ein Standort soll schließen, und Kosten sollen sinken – all das liegt seit diesem Montag in Form eines Eckpunktepapiers auf dem Tisch. Entsprechend dem neuen Sanierungsplan sollen die Produktionskapazitäten auf 8,7 bis 9 Millionen Tonnen im Jahr sinken – das entspricht in etwa dem Absatz des vergangenen Geschäftsjahres. Das Signal: Für größere Mengen ist einfach kein Markt mehr da.
Hinter den Einschnitten steckt, dass die Branche gleich dreifach in der Klemme ist. Den ersten Problemstrang beschreibt Thyssenkrupp selbst mit „sich weiter verfestigenden fundamentalen und strukturellen Veränderungen auf dem europäischen Stahlmarkt und in entscheidenden Kunden- und Zielmärkten“. Zunehmend belasteten Überkapazitäten und steigende Billigimporte, insbesondere aus Asien, die Wettbewerbsfähigkeit erheblich. Der zweite Problemstrang rankt sich um die enge Verbandelung mit der Autoindustrie. Die Autobranche schwächelt bekanntermaßen gewaltig, in diesen Bereich fließt aber nach Unternehmensaussage etwa die Hälfte des produzierten Stahls.
Eine dritte Herausforderung ist die Umstellung auf eine klimafreundlichere Stahlerzeugung, die immer dringlicher wird, weil die Preise für den CO2-Ausstoß perspektivisch stark steigen werden. Thyssenkrupps Antwort auf die Herausforderungen ist – nicht erst seit dem neuen Eckpunktepapier – eine „Ausrichtung des Produktportfolios auf Zukunftsmärkte und profitable Stahlgüten“, wie es das Unternehmen nennt. Konzentrieren will man sich zum Beispiel auf sogenannte Mehrphasenstähle und Leichtbaustähle, hochwertige Elektrostähle für Elektroautos und die Entwicklung klimaneutraler Stahlprodukte. All das aber, dem neuen Zukunftsplan zufolge, insgesamt etwas kleiner dimensioniert und schlanker aufgestellt.
Zu lange ausgesessen?
Der Stellenabbau von Thyssenkrupp war auch auf der Tagung zur Zukunft der Industrie Thema, die das Bundeswirtschaftsministerium, Industrieverbände und Gewerkschaften am Dienstag in Berlin veranstalteten. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte, die Stellenstreichpläne – ob bei Thyssenkrupp, VW oder anderen – hätten eine Gemeinsamkeit: „Die lautet, dass in der Vergangenheit die Dinge ausgesessen wurden.“ Mit Blick auf die Stahlbranche sagte Habeck, es gebe spätestens seit 2017 Überkapazitäten auf dem weltweiten Stahlmarkt, auch weil bestimmte Länder – gemeint sein dürfte vor allem China – gezielt subventionierten Stahl produzierten. „Ob wir uns das länger anschauen können, da wage ich mal ein Fragezeichen dahinterzusetzen.“
Habeck sprach sich dafür aus, die europäischen Schutzzölle über 2026 hinaus zu verlängern, möglicherweise auch weitere Maßnahmen zu ergreifen. „Wir können ja nicht zusehen, wie alle ihre Märkte dicht machen, und Europa hält seine immer schön treu – man muss fast sagen treudoof – offen, zulasten der Unternehmen und der Arbeitsplätze.“ IG-Metall-Vorstandsmitglied Jürgen Kerner kritisierte, ohne Thyssenkrupp zu nennen, die Unternehmen versuchten durch den Abbau von Arbeitsplätzen, kurzfristig ihre Marge zu sichern, und vernachlässigten dadurch die Transformation. „Arbeitsplatzabbau war noch nie eine Lösung.“
Chinas Baubranche lahmt
Habecks Blick Richtung Asien kommt nicht von ungefähr. Eine der Hauptursachen für die schwierige Lage der deutschen Stahlhersteller ist die Situation in China. Kleinteiliger gesprochen, liegt die Wurzel der Probleme aktuell vor allem im chinesischen Immobilienmarkt, was zeigt, wie vernetzt die Weltwirtschaft ist. Die Volksrepublik ist mit großem Abstand der größte Stahlproduzent der Welt, mehr als die Hälfte des global erzeugten Stahls kommt aus China. Weil sich dort der jahrzehntelange Bauboom dem Ende zuneigt, exportieren die Konzerne aus dem Reich der Mitte viel mehr.
In der Folge sinken auf der ganzen Welt die Stahlpreise. Bis Ende Oktober gingen knapp 92 Millionen Tonnen Rohstahl aus der Volksrepublik in alle Welt, das allein ist schon mehr als im gesamten Vorjahr. Damit dürfte sich Chinas Stahlexport in diesem Jahr in Richtung des Rekordhochs von vor knapp einem Jahrzehnt bewegen. Anders ausgedrückt: China exportiert inzwischen rund dreimal so viel Rohstahl, wie Deutschland insgesamt produziert.
Die Effekte treffen Deutschland und damit Thyssenkrupp nicht notwendigerweise direkt. Einige Millionen Tonnen aus China gelangen zwar auch jedes Jahr nach Europa. Ansonsten verweisen Vertreter der deutschen Stahlbranche aber auf einen Dominoeffekt. Der chinesische Stahl überschwemme vor allem Nachbarstaaten. Diese verlagerten dafür ihren Export nach Europa. Die Preise in Europa dürften sich erst mit dem Start des EU-Klimazollsystems im Jahr 2026 erholen, schrieben die Fachleute der Ratingagentur Fitch vor einigen Wochen.
Saarland trotzt den Marktveränderungen
Nicht nur Thyssenkrupp, auch die anderen deutschen Stahlhersteller spüren die Marktveränderungen. Daten der Wirtschaftsvereinigung Stahl zufolge sank die Rohstahlproduktion hierzulande im vergangenen Jahr auf nur noch 35,4 Millionen Tonnen – das war sogar weniger als im Corona-Krisenjahr 2020; Daten für das Gesamtjahr 2024 gibt es noch nicht. Einzig die saarländische Stahlindustrie plant nach eigenem Bekunden keine Einschnitte in die Kapazität. Ziel sei, nach der grünen Transformation ähnlich viel Stahl herzustellen wie davor – rund 5 Millionen Tonnen. Die beiden Unternehmen Saarstahl und Dillinger Hütte gehören allerdings der landesnahen Montan-Stiftung-Saar, deren erklärtes Ziel es ist, die saarländische Stahlindustrie inklusive aller Beteiligungen und Geschäftsfelder zu erhalten.
Die Probleme haben aber längst auch die Salzgitter AG erwischt. Die Nummer zwei unter den deutschen Stahlherstellern hat ebenfalls Stellenabbau angekündigt, wenngleich auch noch nicht präzisiert. Ein wichtiger Grund, warum der Absatz zurückgeht, ist die schwächelnde Autokonjunktur. In Salzgitter entfallen sogar fast zwei Drittel des Umsatzes auf die Autobranche. Dabei geht es nicht nur um die Karosserie, sondern auch um viele andere Teile. Im Durchschnitt sind in einem Personenwagen 800 Kilo Stahl verarbeitet. Weil die Mengen so groß sind, können die Autohersteller ihre Produkte sehr viel klimafreundlicher herstellen, wenn sie den herkömmlichen Stahl durch Grünstahl ersetzen, lautet die Verkaufsstory von Salzgitter.
Dort wurden schon vor mehreren Jahren die Weichen für eine Produktion ohne Koks gestellt, die nahezu CO2-frei sein kann, wenn der stattdessen eingesetzte Wasserstoff mit erneuerbaren Energien produziert wird. Die erste Charge Grünstahl aus diesem „Salcos“ genannten Produktionsverfahren sei schon komplett verkauft, berichtete Salzgitter-Vorstandschef Gunnar Groebler voriges Jahr. Mercedes und BMW, Ford und Volkswagen – sie haben alle schon in den Jahren 2021 und 2022 konkrete Absichtserklärungen unterschrieben, um mit dem grünen Stahl aus Salzgitter planen zu können.
Schwache Autokonjunktur belastet
Die Verbindungen zwischen Stahl- und Autoindustrie sind auch über dieses Beispiel hinaus sehr eng. Die Fahrzeugbranche ist der zweitgrößte Abnehmer von Stahl nach der Baubranche, und sie bezieht nach Angaben des europäischen Verbands der Autohersteller, ACEA, mehr als 90 Prozent ihres Stahls von Herstellern aus Europa. Lange war erwartet worden, dass der Bedarf mit dem Aufstieg der Elektromobilität noch steigt. Jetzt schlägt die schwache Autokonjunktur in Europa durch, besonders die Schwäche der Elektroautos dämpft die Nachfrage durch Großkunden wie Volkswagen.
Gleichzeitig sind etliche Projekte angelaufen, die die Zusammenarbeit noch vertiefen, vor allem für grünen Stahl, ähnlich wie im Salzgitter-Beispiel. So hat auch Thyssenkrupp gerade eine Vereinbarung mit VW getroffen, laut der die Wolfsburger vom Jahr 2028 an CO2-frei erzeugten Stahl aus der künftigen Direktreduktionsanlage beziehen sollen. Auch Mercedes möchte gemeinsam mit Thyssenkrupp Steel die Produktion von CO₂-reduziertem Stahl aufbauen. Dieses Ziel wird nach Unternehmensangaben unverändert weiterverfolgt.
Allen gemeinsam dürfte Problem Nummer drei sein: Der Grünstahl hängt stark am Wasserstoffhochlauf – und der schwächelt ebenfalls gewaltig. In Duisburg ist höchst unklar, ab wann man die im Bau befindliche Direktreduktionsanlage überhaupt wird mit Wasserstoff betreiben können. Thyssenkrupp Steel stehe „unverändert“ zur klimaneutralen Stahlproduktion, hieß es am Montag. Das Unternehmen halte an seinem Plan fest, die Direktreduktionsanlage fertigzustellen. Man führe aber Gespräche, um die Wirtschaftlichkeit dieses großen Investitionsprojekts unter den sich schnell verändernden Rahmenbedingungen sicherzustellen. Mit wem genau gesprochen wird, blieb offen. Ob Robert Habeck noch lange der richtige Ansprechpartner für Fördermittel bleibt, ist schließlich ebenfalls unklar.
Von Nadine Bös, Bernd Freytag, Julia Löhr, Christian Müßgens, Susanne Preuß, Gustav Theile und Benjamin Wagener