Mythos Nationagericht: Alberto Grandi gießt Italienern Essig in den Wein

Nicht nur hierzulande gilt Italien als Land der guten Küche – und zwar in allen Preislagen. Die einen lieben Pizza, Pasta, Speiseeis, die anderen schätzen Qualitätsweine und genießen erlesene Meeresfrüchte in teuren Restaurants. Und die Bewohner des Mittelmeerlandes, wer wollte es ihnen verdenken, sind davon überzeugt, dass die Qualität ihrer Küche tiefe historische Wurzeln hat. „Italien ist das Land“, schreibt Alberto Grandi in seinem Buch Mythos Nationalgericht, „in dem zwei der reichsten Regionen weltweit, Veneto und Friaul-Julisch Venetien, sich streiten, wer das Tiramisu hervorgebracht hat, und in dem hochrangige Landespolitiker sich wie mittelalterliche Ritter befehden, um die Ehre einer Wurst- oder Käsesorte zu verteidigen.“ Der an der Universität Parma lehrende Wirtschaftshistoriker ist angetreten, einen gehörigen Schuss Essig in den Wein zu gießen. So stellt er in seinem teils in süffisantem Tonfall verfassten Essay dar, wie der Glorienschein, der italienische Speisen heute umgibt, zu gutem Teil auf eine Marketingstrategie zurückzuführen ist, mit der die Regierung sich seit Mitte der 1950er-Jahre darum bemühte, einen Weg aus der industriellen Wachstumskrise zu finden.

Die runde Teigscheibe mit etwas obendrauf: keine italienische Besonderheit

Kleine landwirtschaftliche Betriebe und die Gastronomie, die nun als zentrale Wachstumsfaktoren betrachtet wurden, erfuhren eine nie zuvor gekannte Förderung und die angeblichen Spitzenleistungen wurden mittels regionaler Gütezertifikate und eines Geschichtsmarketings aufgewertet. Tatsächlich seien viele der heute auf jahrhundertealte Traditionen zurückgeführten und mit bestimmten Orten verbundenen Spezialitäten „das Resultat relativ kurz zurückliegender Veränderungen und wurden im Großen und Ganzen zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren erfunden“. Für ihn handelt es sich in erster Linie um ausgedachte Traditionen in dem Sinne, wie sie die britischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger 1983 in ihrem bald darauf berühmt gewordenen Sammelband The Invention of Tradition vorgestellt hatten. Beispiele dafür gibt es zuhauf: Der vermeintlich „urindianische“ Tomahawk stammt aus Manufakturen an der amerikanischen Nordostküste des 18. Jahrhunderts und der Kilt, der berühmte Schottenrock, ist nicht das bis ins Mittelalter zurückreichende Erbe schottischer Clans, sondern eine Bekleidungsfolklore, die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert wurde.

Zurück zur italienischen Küche: Zwar gibt es Nudeln und Pizza, also belegten und anschließend im Ofen gebackenen Brotteig, tatsächlich schon ziemlich lange. Allerdings betrifft das den gesamten Mittelmeerraum einschließlich Nordafrikas. Man denke nur an das türkische Pide. „Auf jeden Fall“, so Grandi, „ist die runde Teigscheibe mit etwas obendrauf, damit es nach mehr schmeckt, keine italienische oder neapolitanische Besonderheit“.

Die beliebte Pachino-Tomate stammt ursprünglich gar nicht aus Sizilien, sondern ist eine Entwicklung der israelischen Firma Hazera Genetics, der es 1989 gelang, eine besonders ergiebige, das ganze Jahr über wachsende Pflanze zu züchten. Die italienischen Produzenten besorgen sich jedes Jahr das Saatgut oder Setzlinge für die neue Saison beim Hersteller oder bei Gärtnereien.

Die immer wieder als besonders gesunde Form der Ernährung angepriesene Mittelmeerküche verdankt ihren Ruf einem US-amerikanischen Wissenschaftlerehepaar. Der Physiologe Ancel Keys und seine Frau Margaret haben ihre Vorzüge Ende der 1950er-Jahre zu preisen begonnen. Sie machten die Entdeckung, dass die Bevölkerung in den betreffenden Regionen Italiens kaum Probleme mit einem erhöhten Cholesterinspiegel und Herzerkrankungen zeigte. Der Befund war insofern wenig überraschend, weil sie es in Italien mit einer Bevölkerung zu tun hatten, die zum Teil noch an Unterernährung litt, während in Nordamerika schon damals das tendenziell zunehmende Übergewicht als ein ernstes medizinisches Problem erkannt wurde.

Zu einem großen Teil, das macht der Historiker plausibel, entstanden die heute als Nationalgerichte geltenden Speisen im Ausland – insbesondere in Nordamerika – unter den Millionen von ausgewanderten Italienern, die dort Communitys bildeten. Menschen, die aus verarmten Bauernfamilien stammten und jetzt die Little Italys in den Großstädten der USA bevölkerten, verfügten nun über Lebensmittel, die sie in ihrer ursprünglichen Heimat gar nicht kannten oder die dort für sie unerschwinglich gewesen waren. „Die Landbevölkerung Süditaliens“, erklärt Grandi, „wurde erst in Amerika zu Nudelessern“. Hier, in den Vierteln der aus ganz verschiedenen Regionen stammenden Italo-Amerikaner, verschmolzen zudem ganz verschiedene Essgewohnheiten zu einer italienischen Küche, die man insofern als ein ebenso amerikanisches wie italienisches Produkt bezeichnen kann. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielte das 1891 erstmals in Florenz erschienene und in den darauffolgenden Jahren in immer neuen, erweiterten Auflagen erschienene Kochbuch mit dem schönen Titel Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens von Pellegrino Artusi, das für die wachsenden Communitys der Auslandsitaliener rasch zu einem Symbol der kulturellen Abgrenzung und Selbstidentifikation wurde. Von der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft gemocht wurden die italienischen Restaurants zunächst allerdings nicht. Lange Zeit handelte es sich um die Lokale einer ausgegrenzten Minderheit von vermeintlichen Dieben, Hungerlöhnern und Habenichtsen, die erst in dem Moment auf wirkliches Interesse stieß, als Italien zum medial heroisierten Bündnispartner der Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg wurde. Die berühmten Spaghetti Carbonara wiederum, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein Dauerrenner in den Restaurants wurden, führt Grandi auf den Einfluss der US-Besatzer im postfaschistischen Italien zurück. Es handelt sich um Nudeln, denen man Eier mit Speck hinzufügte – ein typisch amerikanisches Frühstück.

Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche Alberto Grandi Andrea Kunstmann (Übers.), HarperCollins 2024, 256 S., 22 €

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