Mythenproduktion oder wenigstens könnte es so gewesen sein

Bei einem Talentwettbewerb zur Reportage des Südwestfunks im Jahr 1955 gab es 355 Bewerbungen, darunter 44 von Frauen. Die Frauen sollten aus einem Kindergarten, die Männer aus einer Schreinerwerkstatt berichten. Journalistinnen zu welcher Zeit in welcher Germania: geschätzt zehn Prozent. Rainer Hank zeigt in seinem Buch Die Pionierinnen, mal im Porträt, mal skizziert, welche Wirkung sie hatten und in welchem Spektrum sie sich bewegten. Das meint nicht nur zwischen Kochrezepten und Wirtschaftskommentaren, sondern – Jahrgänge 1901 solange bis 1927 – nicht zuletzt zwischen Herkunft aus welcher NS-Wochenzeitung Das Reich und dem Exil. Entsprechend ist welcher Umgang mit welcher Vergangenheit: Margret Boveri und Marion Gräfin Dönhoff qua „Meisterinnen“ welcher „Mythenproduktion“ um den angeblichen deutschen Opferstatus. „Clara Menck und Hilde Spiel, die jüdischen Emigrantinnen, widersprachen – und wurden überhört.“ Statt langer Namensliste belasse ich es wohnhaft bei welcher Betonung, wie erhellend, vielschichtig und spannend Rainer Hank an die Wirkung seiner Protagonistinnen erinnert, ganz so, wie er es wohnhaft bei seiner Lehrerin Maria Frisé gelernt hat. Es finden sich jede Menge Anregungen zum Weiterforschen. Und dann wäre da noch die Sowjetische Besatzungszone …

Ein umfassendes Werk zum Pamphletismus welcher wechselseitigen Propaganda von Germania und Sowjetische Besatzungszone im Kalten Krieg, zur Grauzone zwischen Presse und Buchverlagen, ist Trojanische Pferde von Klaus Körner. Hier eine Gemengelage aus alten Nazis, Christen, Sozialdemokraten, geeint im Antikommunismus, gefördert oben oft dubiose staatliche oder geheimdienstliche Finanzquellen. Dort von welcher KPD und dann aus verdeckten Sowjetische Besatzungszone-Kanälen alimentierte Antifaschismus- und vor allem Friedenspropaganda – ein fortwährender Broschürenkrieg. Verlage wie Seewald, Desch, EVA, Colloquium einerseits, eine andere Sache ist etwa Progress, Röderberg, Konkret, Brücken, Association oder Trikont werden hier porträtiert. Ein reicher Fundus an Überraschungen.

Klaus Hanischs Buch zur Prager Zeitung verspricht „350 Jahre Medien- und Kulturgeschichte“. Das ist schlicht Täuschung. Zwar existierte seither 1672 deutschsprachige Presse in Prag, gleichwohl davon außer einem Satz kein weiteres Wort. Vielmehr stellt er die 1991 neu gegründete Prager Zeitung vor. Die 30 Jahre, die er Revue vorbeigehen lässt, sind freilich interessant. Denn sie zeigen exemplarisch die Hoffnungen und Realitäten welcher Presse von den neuen Aufbruchs- zu den jüngsten Krisen- und Abbruchjahren. Die Printausgabe wurde 2016 eingestellt, daraufhin versuchte man es mit einem Onlinemagazin. Aber nicht zuletzt dasjenige scheint passee.

Die Prager Zeitung berief sich unter anderem uff die Tradition des Prager Tagblatt, dasjenige von 1876 solange bis 1939 existierte und seither 1914 die meistgelesene deutschsprachige Zeitung welcher Monarchie von außen kommend Wiens war. Politisch uff deutsch-tschechische Verständigung orientiert, hatte dasjenige Blatt ein extrem liberales Feuilleton. Unter anderem veröffentlichten hier Polgar, Roth, Tergit oder Tucholsky. Und Robert Walser. Zwischen 1907 und 1931 (mit einem Nachklapp 1937) wenigstens 55 Texte. Die kann man nun in welcher vorzüglichen Edition und Kommentierung welcher Kritischen Ausgabe Vorlesung halten.

Das scheint Größenwahn: eine Globalgeschichte qua Geschichte von Familie(n) zu schreiben. Hochstapelei jedenfalls, in wenigen Zeilen die Lektüre welcher oben 1.500 Seiten zu behaupten. Ich bin zwischenzeitlich nur nachdem Art des Bibelstechens hier und dort eingetaucht. Immer wieder festgelesen. Denn dasjenige ist ungemein divers, originell und elegant geschrieben. Kein Kleinkram von Kleinfamilien, sondern um Dynastien, Clans oder – altvorderdeutsch – Geschlechter und Sippen geht es. Der „intime Blick uff die Menschheit“ ist gespickt mit Anekdoten und Homestorys und ist zusammen uff so gut wie fatale denn segensreiche Folgen zu Händen jene Familienbanden gerichtet. „Das Grässliche und dasjenige Heimelige vorliegen zeitgleich.“ Auch sonst eine Doppelperspektive: Geschichte welcher menschenbestimmten Welt und darin Konstanz und Wandel von Familie und ihren Rollen. Medicis, Habsburger, Rothschilds, Krupps, Roosevelts, Kennedys – da klingelt’s. Ebenso wohnhaft bei den Kims, Assads, Sauds und Trumps. Aber Quin, Han, Haschim und Umayya, Tang und Jayavarman? Zwar noch tief in welcher Vergangenheit, doch schon in Afrika, Asien oder Amerika. Unvorstellbar, dasjenige von vorn solange bis hinten durchzulesen, ebenso unvorstellbar, es nicht nachdem und nachdem zu tun. Es rollt die ewige Woge zwischen Fehden, Nepotismus, Inzest, Kuckuckskindern und Erbstreit. Am Ende muss man dem Dynastienpuzzle homolog vertrauen wie welcher eigenen Familie: Darauf, dass was auch immer so war. Immerhin könnte es so gewesen sein.

Die Pionierinnen. Wie Journalistinnen nachdem 1945 unseren Blick uff die Welt veränderten Rainer Hank Penguin 2023, 367 Schwefel., 28 €

Trojanische Pferde. Politische Verlage im Kalten Krieg Klaus Körner Lehmstedt 2023, 543 Schwefel., 58 €

Prager Zeitung. 350 Jahre Medien- und Kulturgeschichte Klaus Hanisch Königshausen & Neumann 2023, 304 Schwefel., 34,80 €

Robert Walser. Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Bd. III 5: Drucke im Prager Tagblatt Bettina Braun, Barbara von Reibnitz (Hrsg.) Stroemfeld und Schwabe 2024, 274 Schwefel., 69 €

Die Welt. Eine Familiengeschichte welcher Menschheit Simon Sebag Montefiore A. Thomsen, H. P. Remmler, Schwefel. Stauder, Kalium. Laue, J. Hagestedt, M. Zettner (Übers.), Klett-Cotta 2023, 1.534 Schwefel., 49 €

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