Das Programm war bunt und faszinierend wie selten. Am Dienstag, den 23. September, wurde das letzte Konzert des Berliner Musikfests 2025 gegeben, es wurde eingeleitet mit zwei Werken der koreanischen Komponistin Younghi Pagh-Paan, der ersten deutschen Professorin für Komposition, auch um ihren 80. Geburtstag zu würdigen. Luciano Berio und Pierre Boulez wären in diesem Jahr 100 geworden, auch sie wurden gewürdigt in jeweils mehreren Konzerten.
Ich selbst habe mich beteiligt an der Würdigung der schwedischen Komponistin Lisa Streich und auch Helmut Lachenmanns, des großen alten Mannes der deutschen Avantgardemusik nach dem Zweiten Weltkrieg: Streich wurde in diesem Jahr 40, Lachenmann wird 90 am 27. November. Musik von beiden war in zwei Konzerten, über die ich berichtet habe, passend zusammengestellt (am 3. 9. und am 7. 9.), einen weiteren Abend mit Lachenmann, am 18. 9., will ich hier noch nachtragen.
Es kam diesmal eine Komposition seines Schülers Mark Andre hinzu, die nicht weniger erregend und wichtig war als die des Lehrers – … selig ist … (2023/24) für Klavier und Live-Elektronik –, ich muss sie leider dennoch aussparen. Gespielt hat an diesem Abend das SWR Experimentalstudio unter Michael Acker und Markus Radke, die Ausführenden waren Mark Simpson, Jean-Guihen Queyras und Pierre-Laurent Aimard.
Am Ende soll aber das festliche, bacchantisch trunkene Konzert am 22. September, dem Vorabend des Festivalschlusses, stehen, an dem The Improving Symphony Orchestra seine „Rekomposition“ der 7. Sinfonie von Anton Bruckner vorstellte – ein Heidenspaß in jeder Wortbedeutung und auf so hohem Niveau, dass das Publikum hinterher jubelte.
Lachenmanns Dramen
Einem Komponisten wie Lachenmann, der „längst zu den maßgeblichsten Protagonisten der Neuen Musik zählt“, wie Michael Rebhahn im Programmheft feststellt, kann man sich nur in mehreren Anläufen nähern. In meinen bisherigen Berichten ging es um Kompositionen von ihm, denen man „Botschaften“ anzuhören glaubte – was im Fall von Kunst niemals heißt, dass man sie „aussagen“ könnte, wohl aber, dass Frageräume geschaffen sind, in deren Rezeption sich Lesende, Schauende oder Zuhörende zur Artikulation ihrer je eigenen Betroffenheit angeregt finden –, am 18.9. hingegen stand eines der vielen Stücke auf dem Programm, in denen Lachenmann, ich zitiere weiter Rebhahn, an der „kritischen Analyse angestammter Hörhaltungen“ arbeitet: kritisch gegen eine „Musik, die bloß Reflexe auslöst, statt Reflexionen zu erzeugen“. Als „Befreiung des Hörens“ hat Lachenmann selbst seine Absicht umschrieben.
Die Komposition Allegro sostenuto – „rasch getragen“ zu Deutsch – für Klarinette/Bassklarinette, Violoncello und Klavier wurde 1989 uraufgeführt. In dieser Zeit, so noch einmal Rebhuhn, strebte Lachenmann „zu einem Idiom, in dem sich Geräusch, Ton und instrumentale Geste auf neue Weise durchdringen“. Ich kann hier wenigstens kurz auf Mark Andre eingehen, der die „Durchdringung von Geräusch und Ton“ noch weiter treibt als Lachenmann: Es sind wirklich „Geräusche“, die in … selig ist … elektronisch erzeugt werden, nicht solche aber, wie John Cage sie dem Autoverkehr fast ungefiltert abgelauscht hat, sondern man fühlt sich am Ende erzogen, im puren Geräusch auch nichts weiter zu hören als eine Überlagerung klarer Töne, wenn auch unzählig vieler in einer uns gewöhnlich überfordernder Komplexität, die ihre Unterscheidung nicht mehr nahelegt.
Was die „instrumentale Geste“ angeht, hört man bei Lachenmann etwa, dass deutlich artikulierte Töne, wie sie in traditioneller Musik vorkommen, neben angehauchten oder geschredderten stehen oder so ineinander übergehen. Das Gestische geht so weit, dass der Klarinettist hin und wieder aufsteht, um direkt in den Körper des Pianos hineinzutönen.
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Man muss hier aber vor allem an den Paradigmenwechsel denken, den die Musikwissenschaft zuletzt vollzogen hat: weg von einer nur „strukturalen“ Partituranalyse moderner Musik, die oft mit einer eher emotionsarmen, dafür gleichsam außerirdisch fremden Aufführungspraxis verbunden war – hin zum Hörbarmachen all der Zartheits-, Desillusions-, Wut- oder auch Liebesanfälle, die sich etwa in den Klavierwerken von Pierre Boulez auf engstem Raum abwechseln. Wer näher begreifen will, dass solche Musik massiv emotional ist, lese Martin Zenck, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde, Paderborn 2017.
Auch das Allegro sostenuto stellt ein solches Gefühlsdrama dar. Wenn man dafür einmal ein Organ hat, wundert man sich nicht mehr über das, was wohl jeden und jede bei der ersten Begegnung mit moderner Musik erstaunt, den Eindruck nämlich von Kompositionen, die über weite Strecken bloß aus unzusammenhängenden einzelnen Tönen zu bestehen scheinen. Man hat doch Melodien erwartet! Aber wie ist es im wirklichen Leben, handeln, denken, fühlen wir da quasimelodisch? Wohl kaum. Wir bewegen uns irgendwie zusammenhängend in all diesen Sparten, der Zusammenhang ist aber sicher nicht Liedern vergleichbar, eher schon einer Folge von „Schicksalsmotiven“ wie am Beginn der Fünften von Beethoven.
Der „Strukturklang“
Einen anderen Aspekt fand ich noch spannender. Schon seit Ende der 1960er Jahre, so Rebhahn, hat Lachenmann „eine Musik [entwickelt], in der die akustischen Ereignisse so gewählt und organisiert sind, dass man den Akt ihrer Entstehung ebenso wichtig nimmt wie den resultierenden ‚Ton‘ selbst“. Wie ich nun gerade am Allegro sostenuto höre, gilt das nicht nur für den Ton, sondern auch für den Klang überhaupt – für das, was Lachenmann den „Strukturklang“ nennt. Darunter versteht er Akkorde, deren Ebenen nicht nur gleichzeitig und dann gleichintensiv auftreten, sondern die allmählich und verschieden intensiv, auch verschieden „gefärbt“ zusammenfinden und so auch wieder, nach dem Höhepunkt ihres Zusammentreffens, sich vereinzeln.
Unter dem „Strukturklang“ ist die gesamte Dauer eines solchen Gefüges zu verstehen. Es gibt Kompositionen von Lachenmann, in denen sich Strukturklang an Strukturklang reiht, was sich dann anhört wie Redeprosa – in der traditionellen Musik am ehesten Brahms vergleichbar, etwa der Bewegung am Anfang des ersten Satzes seiner 4. Sinfonie –, aber ganz anders, und noch viel aufregender, hat er es in Allegro sostenuto gemacht. Hier kann nämlich die gesamte Komposition als eine einzige Dauer von nur wenigen Strukturklängen, deren Anbahnung und Verklingen man als solche zunächst gar nicht begreift, aufgefasst werden.
Das Aufregende daran ist, dass in solcher Perspektive jener Schein, von dem ich sprach, „unzusammenhängender einzelner Töne“ verschwindet. Nein, selbst wenn sie noch wie isoliert und als zufällige Würfelwürfe erscheinen, weben sie schon ihre Begegnung herbei. Und ich denke, das wird schon bei Boulez oder Nono, ja bei Anton Webern das Prinzip gewesen sein. Lachenmann hat nicht nur auch so komponiert wie diese Vorgänger, sondern sein Publikum zudem befähigen wollen, es zu begreifen. Zur „Befreiung des Hörens“ eben.
Musikalische Zeit
Indem ich mit Lachenmann von der „Dauer“ eines Strukturklangs spreche, ist der Zentralbegriff der Philosophie Henri Bergsons (1859–1941) gefallen, an den hier zu erinnern sehr am Platz sein dürfte. Bergson wollte hervorheben, dass das „innere“ Zeiterlebnis von uns Menschen ganz anders beschaffen ist als das, was der Physik, überhaupt den Wissenschaften der „außen“ wahrnehmbaren Welt als aus aufeinanderfolgenden „Zeitpunkten“ bestehender Zeitstrahl gilt. Für ihn, wie vorher für Augustin und mit ihm gleichzeitig für Husserl, war das Erlebnis des Musikhörens eine besonders plausible Referenz. Dass Bergson aber „innere“ und „äußere“ Zeit so radikal trennte, dass er sogar noch die Sprache, die sich nun mal im „äußeren“ Raum entfaltet, als dem eigentlichen inneren Wesen des Menschen entfremdet relativieren will, haben schon viele kritisch gesehen.
Tatsächlich spricht doch gerade das Erlebnis der musikalischen Sprache gegen Bergsons Trennung. Er selbst dachte sicher nur an traditionell melodiöse Musik, die man allerdings so hören kann, als gebe es gar keine Zeitfolge in ihr. Denn da „fesseln“, faszinieren Kompositionen so sehr, dass man meint, man erlebe statt der Zeit die Ewigkeit, jenen ewigen Augenblick, nunc stans, der alles mit einem Mal umgreift. Moderne Musik seit Webern kann man so aber nicht mehr hören.
Selbst wer noch befremdet ist von einem Stück wie Allegro sostenuto, wird staunen müssen über die pure Tatsache, dass seine einzelnen Klangstränge Moment für Moment so exakt, wie sie es tun, in Abstand sich setzen oder zusammentreffen. So viel, dass die Töne und Klänge es nicht zufällig tun, sondern nach genau gestalteter Ordnung, hört auch der mit solcher Musik noch unvertraute Anfänger. Diese Ordnung ist aber dermaßen diffizil, dass ein Dirigent ganz nutzlos wäre, den drei Spielern zu ihren richtigen Einsätzen zu verhelfen. Wie so ein Stück eingeübt werden kann, übersteigt meine Vorstellungskraft – es ist aber offenbar möglich. Als Hörerlebnis kommt nicht nur „innere Dauer“ heraus – das auch! –, sondern dass sie sich nur ganz „äußerlich“ durch genaueste Koordination physikalischer Messzeit der Zusammenspielenden erzielen lässt.
Wagners Tod
Nun aber noch zum bacchantischen Festival-Ausklang, der für mich das Konzert des Improving Symphony Orchestra war. Ein Bacchus-Fest, geknüpft an einen Tod? Ja, derart „dionysisch“ stellt sich schon die Basis der Improvisation dar, Anton Bruckners originale 7. Sinfonie in E-Dur (1883–85). Es ist nicht zu zählen, wie oft ich sie gehört habe, aber jetzt nach dem 22. September frage ich mich, warum ich sie jetzt erst begreife. Wahrscheinlich eben wegen des „dionysischen“ Kontrasts, den ihr erster und zweiter Satz ausspannen.
Der erste beginnt mit einer sehr weit ausladenden Melodie, die in tastenden Schritten geheimnisvoll zum Himmel aufzusteigen, alles Irdische dabei mitnehmen zu wollen scheint. Der zweite ist die Trauermusik zum Tod Richard Wagners, den Bruckner sehr verehrt hat. Aber wie konnte ich überhören, dass die glücklich schwebende Melodie des ersten Satzes die tragisch „getragene“ des zweiten nur variiert? Wie Bruckner das macht, ist wahrlich faszinierend. Und wie dann Gustav Mahler, im ersten Satz seiner Siebten, die Melodie von Bruckners erstem Satz ein weiteres Mal aufgreift, wo sie nun wirklich rätselhaft, weil ganz kontextlos dasteht, mit dem gut erkennbaren Gestus aber einer Desillusionierung, die Bruckner noch ganz fremd ist.
Die erste große Leistung der Bearbeitung von Bruckners Siebter durch das Improving Orchestra war, den sehr engen Zusammenhang aller Themen der vier Sätze dieser Sinfonie leicht hörbar zu machen.
Die zweite war die Öffnung dieser Musik für den klassischen Jazz. Auch das war so leicht, dass man sich an den Kopf fasste: Wie ging denn der klassische Jazz vor, wenn nicht so, dass sehr einfache Kadenzen in ihm festgelegt waren, in dem sich Improvisateure sicher bewegen konnten? Die Kadenzen unter Bruckners „getragenen“ Melodien sind zwar nicht eben einfach, entwickeln sich vielmehr recht kühn, aber einmal komponiert, liegen sie auch fest und können genauso als Improvisationsbasis dienen! Das Orchestra, bestehend aus engagierten jungen Leuten, die ihre Umarbeitung in gemeinsamer Arbeit erreicht haben müssen, ließen Originalzitate, konzentriert auf die eng verwandten Themen der Brucknerschen Sinfoniesätze, ihre Verfremdung und die Einbrüche von Jazzsolos ineinander übergehen – fast anderthalb Stunden lang, ohne dass es je aufhörte, spannend zu sein, ja ergreifend zu sein.
Diese Einbrüche waren nicht nur ein Spiel, auf deren Idee man verfallen war, sondern hatten eine Bruckner sehr gemäße Funktion. Bruckners langsame Melodien sind nämlich nicht nur kühn, sondern auch in einer Anspannung gehalten, die fast unerträglich werden kann, wenn man sich einmal für sie geöffnet hat. Diese Anspannung jazzmäßig „explodieren“ zu lassen, war zum einen erlösend, zum anderen konnte sie, in ihrem ganzen Ausmaß, so überhaupt erst bewusst werden.
Auch die Choreografie war beeindruckend. Die Gruppe wird den kleinen Saal der Philharmonie, in dem sie sich überall bewegte, vorher genau studiert haben. Im Zentrum hatte sie einen länglichen Quader platziert, auf den die jungen Leute akrobatisch sprangen und der am Ende ein Tischtuch bekam, um das herum sie sich setzten. Sonst lagen sie dort, saßen oder liefen in Teilgruppen herum, während sie ihre aufregende Musik spielten. Es gab dabei eine Lichtregie wie im Theater, die helle und dunkle Gruppen nebeneinander erschuf. In einer Szene sah es so aus, als rieben sich Schiffe des Nachts aneinander, ungefähr wie man sich Seeschlacht von Salamis vorstellt.
Das Publikum war begeistert, spendete stehend Beifall und manche brüllten vor Glück, auch ich.