Unterhaltungsprogramm oder Bildungsurlaub, Realitätsflucht oder soziale Gegenwelt: Ein Musikfestival kann vieles sein. In Deutschland bieten sich jährlich 1.764 solcher Möglichkeiten, den Alltag zu verlassen und in Kurzzeit-Parallelwelten einzutauchen – ob mit klassischer Musik, Jazz, Techno oder Metal.
Das ist eines der Ergebnisse der ersten systematischen Erhebung über die Größe und Zusammensetzung der hiesigen Festivallandschaft. Durchgeführt wurde die nun vorgestellte Studie vom IfD Allensbach im Auftrag der Initiative Musik, der Bundesstiftung Livekultur und dem Deutschen Musikinformationszentrum (MIZ).
Parallelwelten im Minus
Die Festivalstudie beziffert nicht allein die Größe und Vielfalt der hiesigen Festivallandschaft. Sie zeichnet auch das Bild einer krisengebeutelten Branche. Fast ein Drittel der 638 im Rahmen der Studie befragten Festivals schloss die letzte Ausgabe mit einem Minus ab. Die Probleme seit dem schwierigen Post-Corona-Neustart 2022 sind mannigfaltig und befeuern sich gegenseitig. Explodierte Produktionskosten treffen auf geschrumpfte Besucherzahlen, ein Teufelskreis.
22 Prozent der befragten Festivals sind sich unsicher, wie lange sie noch weitermachen können. Neun Prozent befürchten in näherer Zukunft das Aus. Quer durch die Genres sind es kleinere und mittelgroße Festivals, die besonders betroffen sind. Das deckt sich mit der Nachricht, dass selbst langlebige Festivals wie Melt oder Maifeld Derby eingestellt wurden.
Das 1997 gegründete Melt fand vergangenes Jahr zum letzten Mal statt, die finale Ausgabe des Maifeld Derby war im Mai dieses Jahres. Der Branchenverband LiveKomm erhebt seit 2023 nicht-repräsentative Zahlen: „Aktuell wissen wir von über 40, die pausieren oder den Betrieb eingestellt haben“, sagt Geschäftsführer Christian Ordon.
Man setzt mehr auf Altbekanntes – das hat Folgen
MIZ-Leiter Stephan Schulmeistrat betont allerdings, dass 68 Prozent aller Festivals optimistisch blieben. Dabei sind es vor allem die überdurchschnittlich stark durch öffentliche Gelder geförderten Klassikfestivals und die kommerziell agierenden Großfestivals, deren Zukunftssorgen sich in Grenzen halten.
Ordon sieht das allerdings nicht als Indikator für ein Zweiklassensystem: „Die Krise betrifft den gesamten Live-Bereich. Groß wie klein kämpfen gegen Preissteigerungen von weit über 30 Prozent“, sagt er. „Große Festivals mögen die höheren Margen haben, doch auch die schrumpfen zunehmend.“
Sie stehen damit vor demselben Dilemma wie die kleineren: Höhere Ausgaben durch Preisanhebungen für Tickets und in der Gastronomie zu kompensieren, wäre dem Publikum nicht zuzumuten. Die Inflation wirkt sich auch hier auf das Kaufverhalten aus. „Natürlich fragen sich die Leute, ob sie nun fünf kleine Festivals besuchen wollen oder für dasselbe Geld einen großen Kurzurlaub machen sollen“, so fasst Ordon es zusammen.
Um schon im Vorfeld viele Tickets zu verkaufen und finanzielle Planungssicherheit zu erhalten, wird in zugstarke und damit altbekannte Acts investiert. Auch Ordon beobachtet eine schleichende „Headlinerisierung“ auf dem Festivalmarkt.
Kein Geld für Diversität
In einigen Genres, insbesondere im Rock, bedeutet das vor allem, auf Altbewährtes zu setzen. Zugespitzt formuliert: Im Zweifel ist es aus betriebswirtschaftlicher Perspektive lohnenswerter, die Foo Fighters zu buchen als eine Phoebe Bridgers, weil erstere seit 30 Jahren Stadien füllen und die zweite erst seit zehn.
War man in den vergangenen Jahrzehnten bemüht, die Line-ups diverser zu gestalten, drohen die Fortschritte nun finanziellen Sachzwängen untergeordnet zu werden. Schlimmstenfalls sehen die Headliner dann aus wie bei der diesjährigen Ausgabe von Rock am Ring.
Nach Zählung der Journalistin Rike van Kleef, die das viel beachtete Buch Billige Plätze. Gender, Macht und Diskriminierung in der Musikbranche (Ventil Verlag 2025) schrieb, bestand das Line-up zu 92 Prozent aus rein männlichen Bands, die Headliner – unter anderem The Prodigy, KIZ und Slipknot – sogar ausschließlich.
Sprungbrett für Bands
Hinzu kommt, dass die besonders krisengebeutelten kleinen und mittelgroßen Festivals als Inkubatoren für den Nachwuchs dienen: Nicht nur können aufstrebende Acts dort erst ihre ersten Live-Erfahrungen sammeln. Auch erreichen sie auf Festivals potenziell ein Publikum, das nicht ohne Weiteres zu einem Tourstopp gekommen wäre oder sie im Algorithmenstrudel des Streamingumfelds aufgefunden hätte.
Auch in finanzieller Hinsicht dienen Festival-Bookings als Sprungbrett für die Professionalisierung: Mit drei, vier Auftritten lässt sich vielleicht genug Geld verdienen, um eine neue Veröffentlichung zu finanzieren, das heißt auch: das Hobby zum Beruf zu machen.
Der Wegfall der kleineren Bühnen würde diese Aufbauarbeit erschweren und einen Dominoeffekt auslösen. Deshalb wurden zuletzt Rufe nach mehr öffentlichen Förderungen immer lauter. Die Festivalstudie ist laut Stephan Schulmeistrat vom MIZ als Handreichung für die Kulturpolitik angelegt.
Die Großen sollen den Kleinen helfen
Luft nach oben gibt es angesichts der angespannten Lage aber kaum: „Das öffentliche Geld wird nicht mehr, sondern eher weniger.“ Auch der 2024 erstmals ausgeschüttete Festivalförderfonds soll zwar weitergeführt werden, der Haushaltsentwurf 2026 sieht dafür aber nur zwei statt vier Millionen Euro vor.
Wir brauchen ein Werkzeug, mit dem wir unabhängig von Regierungsentscheidungen die Branche fördern können
Nachdem die Musikwelt zwischen den Jahren 2020 und 2022 Förderungen zu schätzen gelernt hat, scheint das Ende der Fahnenstange erreicht zu sein. Christian Ordon von der LiveKomm meint, dass die Not zur Tugend gemacht werden sollte. „Wir brauchen ein Werkzeug, mit dem wir unabhängig von Regierungsentscheidungen die Branche fördern können“, sagt er.
Sein Verband hat gemeinsam mit der Bundesstiftung Livekultur ein solches entwickelt: Der noch nicht lancierte Live Music Fund funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie der Festivalförderfonds, durch ihn sollen unter anderem Festivals finanzielle Zuwendungen erhalten.
Die Gelder dafür sollen aus der Musikwelt selbst generiert werden. Ticketing-Firmen, Veranstalter und sogar Streaminganbieter sollen freiwillige Abgaben tätigen, die umverteilt werden. Bereits 40 verschiedene Parteien hätten sich dazu bereit erklärt, an dem Programm teilzunehmen. Doch wollen Großveranstalter der Kleinkonkurrenz wirklich unter die Arme greifen?
Ordon ist zuversichtlich: Eben weil die kleineren und mittelgroßen Festivals tragende Säulen darstellen, seien sie für das gesamte Ökosystem unverzichtbar. Das schaffe selbst in Zeiten der „Marktkonzentration“ Anreize zur Investition in die kleinen Bühnen.
Es wird noch dauern, bis über den Live Music Fund finanzielle Hilfen geleistet werden können. Viele der akut bedrohten Festivals haben diese Zeit nicht. Sie suchen selbst nach Möglichkeiten, den Kostendruck zu lindern. Das Hamburger Festival Dockville fand in diesem Jahr zum ersten Mal seit seinen Anfangstagen an zwei statt an drei Tagen statt.
Einerseits, um Kosten zu sparen, andererseits, um durch eine somit mögliche Senkung der Preise dem Publikum entgegenzukommen. „Es stellt eine hohe Anfangsinvestition dar, 160 Euro für ein Ticket auszugeben“, sagt Dockville-Sprecher Eike Eberhardt.
Ohne Ehrenamt geht nichts
Eberhardt berichtet, dass das Festival vor allem Personalkosten eingespart habe, das Budget für Künstlergagen trotz des verkleinerten Programms aber angehoben wurde. Für das Zweitagesfestival kann er ein positives Fazit ziehen: „Gut läuft es noch lange nicht, aber wir stehen besser da als andere Festivals unserer Größenordnung.“
Das Prinzip der strategischen Verkleinerung macht in der Breite Schule. Das Team des im Vorjahr eingestellten Melts organisierte in diesem Sommer zwei Mini-Techno-Festivals in Berlin, selbst das Maifeld Derby wird 2026 in abgespeckter Version wiederkehren.
Christian Ordon berichtet von weiteren Strategien, mittels derer kleinere und mittelgroße Festivals durch die Krise zu kommen versuchen. „Einige konzentrieren sich auf eine spezielle Zielgruppe oder versuchen hingegen breiter zu werden, entweder im musikalischen Programm oder mit zusätzlichen Angeboten wie Lesungen, Workshops oder Ähnlichem.“
Doch bringen solcherlei Neuorientierungen und vor allem Programmaufstockungen viel Arbeit mit sich. Diese Arbeit wird meist unbezahlt erledigt, wie auch die Festivalstudie belegt. „79 Prozent der befragten Festivals setzen auf ehrenamtliche Mitarbeit“, sagt Stephan Schulmeistrat.
Freilich riecht das nach Selbstausbeutung. Der MIZ-Leiter sieht jedoch ebenso einen Ausdruck „der Leidenschaft und des Enthusiasmus der Festivalbranche“. Ob sich allein damit eine seit Jahren befürchtete „Marktbereinigung“, die laut Festivalstudie droht, aufhalten lässt? Das wird wohl erst der nächste Sommer zeigen.