Musik | Jodeln im 21. Jahrhundert: Starke Frauen entnerven Schweizer Konventionen

Musik | Jodeln im 21. Jahrhundert: Starke Frauen entnerven Schweizer Konventionen

Eigentlich wollte Elena Kaiser einfach nur jodeln. Da sie in der Zentralschweiz lebt, schien das nicht zu viel verlangt. „Aber als Frau konnte man nicht in einem Chor jodeln, außer man war schon Profi; es gab einfach keine Optionen“, erzählt sie. Außerdem waren da die Liedtexte, die ein idyllisches Leben porträtierten, umgeben von unberührter Natur und überwacht von einem gütigen Gott, in dem die Männer das Sagen haben und die Frauen entweder als naive Mädchen, aufopferungsvolle Mütter oder nörgelnde Ehefrauen dargestellt werden. Kaiser konnte darüber nicht hinwegsehen: „Die schönen Melodien mit diesen komplett veralteten Texten.“ Sie gründete 2022 den ersten feministischen Jodelchor der Schweiz. Seither ist Echo vom Eierstock dabei, die alpine Volksmusikszene ins 21. Jahrhundert zu holen.

Der Chor hat keine Skrupel, Texte zu verändern, bleibt aber der musikalischen Tradition auf liebevolle Weise treu. Beim Jodeln wechselt die Tonhöhe schnell zwischen einer tiefen Bruststimme und einer hohen Kopfstimme. Während die Jodelrufe – wie das „Jodel-ei-iw-oh“, das die meisten Leute mit den Schweizer Alpen verbinden – wahrscheinlich über Jahrtausende von Kuhhirten benutzt wurden, um von einem Berg zum anderen zu kommunizieren, entstanden die Lieder im 19. Jahrhundert.

1910 wurde der Eidgenössische Jodlerverband gegründet. Er war eng mit der Geistigen Landesverteidigung verbunden, einer politisch-kulturellen Bewegung, die angesichts des wachsenden Faschismus in Europa versuchte, schweizerische Werte und Traditionen zu stärken. Heute sind im Verband 780 regionale Jodelvereine mit insgesamt 12.000 Mitgliedern zusammengeschlossen. Er wacht mit strengem Regiment über die Jodeltraditionen.

Die Jodel-Szene ist „überwältigend männlich“

Obwohl es auch gemischte und reine Frauen-Chöre gebe, sei die Szene immer noch „überwältigend“ männlich, berichtet die musikalische Leiterin des Chores, Simone Felber. Felber ist eine klassisch ausgebildete Mezzo-Sopranistin, die mit einigen progressiv eingestellten Musikensembles neue Möglichkeiten innerhalb der Volksmusik auslotet. Dafür wurde sie 2024 mit dem Schweizer Musikpreis ausgezeichnet. Sie gebe „dem Jodeln und der schweizerischen Gesangskultur eine neue Stimme“, so die Jury.

Echo vom Eierstock ist das wohl prominenteste Beispiel für eine starke Veränderung in der schweizerischen Jodelszene, aber nicht das einzige. Im vergangenen Jahr wurde mit Männertreu der erste Jodlerclub für homosexuelle Männer gegründet. Sein Motto: „Where Gays jodeln“. Zudem hat Dayana Pfammatter Gurten als erste schweizerische Person ein Jodel-Masterstudium abgeschlossen.

Wegen Echo vom Eierstocks enormer Beliebtheit musste die Mitgliederzahl auf 50 beschränkt werden. „Das verstößt eigentlich ein bisschen gegen meine Philosophie“, sagt Felber. „Aber an einem gewissen Punkt kommt man einfach an die Grenzen.“ Carmen Bach, die 2010 von Deutschland in die Schweiz gezogen ist, interessiert sich schon lange für das Jodeln. Aber als Frau und Deutsche fühlte sie sich in der traditionellen Szene fehl am Platz. Als sie von Echo vom Eierstock hörte, wollte sie es probieren. „Ich konnte nicht besonders gut jodeln und vielleicht bin ich auch nicht ausreichend Feministin“, erinnert sie sich. „Aber irgendwie schaffte ich es, aufgenommen zu werden, und es ist fantastisch.“

Der Chor bringt eine Gruppe ganz unterschiedlicher Frauen zusammen. Die Altersspanne reicht von Mitte 20 bis Mitte 70. Manche fahren extra von Zürich oder Bern zu den wöchentlichen Proben nach Stans im Kanton Nidwalden. Immer wieder wird der Chor als links eingestuft. Bach findet das absurd: „Wir haben nie eine politische Agenda niedergeschrieben.“ In den vierstimmigen Harmonien und in den in einem sanften Schweizer Dialekt verpackten Texten steckt aber dann doch die eine oder andere unmissverständlich feministische Botschaft. In traditionellen Jodelliedern „werden Frauen als süß, klein, hilf- und wehrlos dargestellt, wenn ein Mann vorbeikommt“, sagt Felber. „Was wir aber nicht sind. Es passt überhaupt nicht zu unserem Selbstverständnis.“

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Die Songs werden mittlerweile selbst geschrieben. Ganz demokratisch – typisch Schweiz

Die Chormitglieder nennen sich selbst kurz „die Eierstöcke“. In den von ihnen gesungenen Liedversionen führt ein Tanz nicht länger automatisch zur Hochzeit und anstatt Gott zu danken, dankt ein anderes Lied dem Leben selbst. Die Jodlerinnen singen davon, kurze Röcke zu tragen und davon, dass einem manchmal alles egal ist, oder von dem Versprechen, dass „wenn sie wieder einmal nicht genug bezahlt bekommen, sie dagegen kämpfen und nicht schweigen werden“.

In einem traditionellen Lied fragt ein junges Mädchen seine Mutter (natürlich eigentlich auf Schweizerdeutsch, die Red.): „Ist Tanzen eine große Sünde? Schau, Franz wartet schon, darf ich mit ihm tanzen gehen?“ Später sagt es: „Sorg dich nicht – ich werde keine Nonne; schau dir mein lockiges Haar an! Ich habe gesehen, wie hübsch ich heute im Spiegel war.“ In der Version von Echo vom Eierstock verläuft das Gespräch komplett anders: „Mutter, komm, sag mir schnell, braucht die Welt noch mehr Kinder?“ – „Die Welt ist ein Geschenk“, versichert die Mutter, doch die Tochter entgegnet: „Aber man kann vorher nicht wissen, was für eine Art von Geschenk.“

Anfangs beauftragte der Chor örtliche Liederschreiber mit dem Umschreiben von Texten, doch im Laufe der Zeit haben Mitglieder des Chors eine Songwriting-Gruppe gebildet, die einen Großteil der kreativen Schwerstarbeit übernimmt. „Es ist ein fortlaufender Prozess und ein aufregender dazu“, so Felber. „Das ist es auch, was uns von traditionellen Chören unterscheidet“, fügt Kaiser hinzu. Abweichende Meinungen und Diskussionen seien willkommen, am Ende werde immer alles mit einer demokratischen Abstimmung entschieden. „Wir sind schließlich in der Schweiz.“

Weg vom konservativen Image

Wenig überraschend verursachte der neue Chor anfangs einen ziemlichen Aufschrei. Hassmails folgten. Aber nachdem der anfängliche Schock überwunden war, kamen vor allem positive Reaktionen. Der Chor trat bei zahlreichen lokalen Festivals und an verschiedenen Veranstaltungsorten in der Schweiz auf, letztes Jahr am Internationalen Frauentag sogar im Bundeshaus in Bern. Zudem haben die neuen Liedtexte in der Jodelszene eine überfällige Selbstreflexion angestoßen. „Mir haben einige erzählt, dass sie zum ersten Mal auf die Worte geachtet haben, die sie singen“, erzählt Kaiser.

Im Zentrum der Arbeit des Chores steht der Wunsch, das Jodeln für alle zugänglicher zu machen. Ein Jahrhundert nach der Verpflichtung der Jodelchöre, eine idealisierte Form von Schweizer Leben zu fördern, betrachten viele die damit verbundenen Traditionen und Bräuche als veraltet und reaktionär. „Besonders in Zeiten wie den heutigen ist es unglaublich wichtig, etwas entgegenzusetzen und zu sagen: Man kann jodeln, ohne konservativ sein zu müssen“, erklärt Felber. „Jodeln darf jeder.“

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