Musik: Hits per Klick statt Beatles? Wie KI eine ganze Industrie in Gefahr bringt – WELT

Künstliche Intelligenz stellt die Musikindustrie auf den Kopf. Schließlich lassen sich per Klick längst einzigartige Songs kreieren – und sogar die Stimmen prominenter Künstler imitieren. Für die etablierte Branche wird das zum Dilemma – denn sie profitiert auch.

Seth Davis ist zweifelsohne ein erfolgreicher Musiker. Wenn sich der Familienvater aus Louisiana hinter sein Schlagzeug setzt, schauen ihm in den sozialen Netzwerken regelmäßig Hunderttausende zu. Eines unterscheidet ihn jedoch von anderen Künstlern. Viele seiner Songs, die er spielt, hat er nicht selbst geschrieben. Es sind stattdessen Titel, die eine Künstliche Intelligenz komponiert hat – von der Melodie über die Akkorde bis zum Text.

Was Künstler wie Davis ein Millionenpublikum beschert, stellt die etablierte Musikindustrie auf den Kopf. Schließlich macht die KI ihr das Songschreiben streitig – und bedroht damit das Milliardengeschäft dahinter. Während prominente Musiker und Produzenten bislang wochenlang an neuen Kompositionen saßen, kann jetzt nahezu jeder per Klick einzigartige Klangfolgen kreieren – und dabei sogar die Stimmen bekannter Künstler imitieren. Die Ergebnisse stehen bisherigen Hits oft in nichts nach.

Allzu hart kann die Gegenwehr der Musikindustrie allerdings nicht ausfallen. Denn auch sie profitiert von den neuen Möglichkeiten.

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Josh Antonuccio ist Direktor der School of Media Arts and Studies an der Ohio University. Der Professor rechnet damit, dass die bisherigen Beispiele erst der Anfang der KI in der Musik sind. „Es handelt sich um einen Werkzeugsatz, der weit über alles hinausgeht, was wir bisher an menschlicher Innovation gesehen haben“, glaubt Antonuccio.

Er geht von gravierenden Veränderungen für die Musikbranche aus. Seine Studenten will der Professor deshalb auf die neue Realität, wie er sagt, vorbereiten. „Ich spreche in allen meinen Kursen über KI, weil sie beginnt, das Gesicht der Kreativwirtschaft so schnell umzugestalten“, sagte Antonuccio.

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Die Möglichkeiten sind schon jetzt enorm. Anwendungen wie BandLab komponieren per Klick das Grundgerüst für einzigartige Songs, die Künstler nur noch verfeinern müssen. Das KI-Programm Aiva verspricht, ganze Tracks in Sekunden zu komponieren. Und andere Anwendungen erstellen Aufnahmen nur auf Basis von Textaufforderungen.

Mit einem neuen YouTube-Tool etwa, das auf Google DeepMinds Sprachmodell Lyria basiert, können Amateure eigene Soundtracks für ihre Kurzfilme erstellen. Dafür müssen sie in die Suchmaske lediglich ihre Wünsche eingeben und sich anschließend für einen Künstler entscheiden, der dem Song seine Stimme verleiht.

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Namhafte Sänger haben sich in dem Experiment bereiterklärt, ihren Gesang von einer KI imitieren zu lassen, darunter Charlie Puth, John Legend oder auch Demi Lovato. „Die Entwicklung der KI-Technologie verändert rasant die Art und Weise, wie wir uns in der Landschaft zurechtfinden. Ich glaube, dass wir als Künstler an der Gestaltung dieser Zukunft mitwirken müssen“, erklärt die Sängerin ihre Partnerschaft mit der Videoplattform.

Doch das sehen in der Musikindustrie längst nicht alle so. Sony Music hat zuletzt einen Brief an 700 KI-Entwickler geschickt. Darin warnt das große Musiklabel die Unternehmen davor, das geistiges Eigentum ihrer Vertragskünstler für das Training von KI-Modellen zu verwenden.

Dazu zählen nicht nur die Kompositionen und Songtexte selbst, sondern auch Albumcover oder Metadaten der Songs. „Wir unterstützen Künstler und Songwriter, die eine Führungsrolle bei der Nutzung neuer Technologien zur Unterstützung ihrer Kunst übernehmen“, erklärt Sony Music. „Diese Innovation muss jedoch sicherstellen, dass die Rechte von Songwritern und Künstlern, einschließlich der Urheberrechte, respektiert werden“, heißt es weiter.

Elvis Act soll Künstler auch vor KI-Missbrauch schützen

Unterstützung findet die Musikindustrie in der Politik. Der Bundesstaat Tennessee hat zuletzt etwa den sogenannten Elvis Act verabschiedet. Angelehnt an den King of Rock ’n’ Roll heißt das Gesetz in seiner ausgeschriebenen Form „Ensuring Likeness Voice and Image Security Act“, auf Deutsch also Gesetz zur „Gewährleistung der Einzigartigkeit der Stimme und des Bildes“.

Schon vor 45 Jahren, kurz nach Elvis Presleys Tod, gab es in dem Bundesstaat eine ähnliche Diskussion um das Urheberrecht. Denn schnell kamen die ersten Doubles auf, die mit Pompadour-Frisur und Disco-Kostüm die Lieder des Weltstars performten.

Heute soll der Elvis Act vor allem davor schützen, dass reale Sänger von der KI kopiert werden. Das Gesetz erweitert das Urheberrecht auf die Einzigartigkeit der eigenen Stimme, des Gesichts und des Körpers. Wer sie unerlaubt nutzt, muss mit Strafen rechnen.

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Auch darf eine KI mit den Daten fortan nicht mehr gefüttert werden. Für Tennessee hängt viel an dem Gesetz. Laut dem republikanischen Gouverneur Bill Lee sind mehr als 61.000 Menschen in Tennessee in der Musikindustrie beschäftigt, sie trägt rund 5,8 Milliarden Dollar zur Wertschöpfung des Staates bei. Dass fortan jeder einen Welthit per Klick komponieren könnte, würde Tennessee das Geschäft streitig machen.

Geht es nach Künstlervereinigungen, sollen solche Regeln bald bundesweit gelten. Die Human Artistry Campaign vertritt fast 200 Mitglieder aus der Kreativbranche. „Das Lebenswerk und die unersetzbaren Beiträge der kreativen Gemeinschaft für unsere Kultur verdienen Schutzmaßnahmen, die einen verantwortungsvollen Einsatz der KI-Technologie ermöglichen“, sagt etwa Moiya McTier, leitende Beraterin der Human Artistry Campaign. Das müsse geschehen, ohne die Rechte anderer zu verletzen oder sich ihre Kunst anzueignen.

Singen auch nach dem Tod

Für die etablierte Musikindustrie sind die neuen Möglichkeiten aber auch ein Dilemma. Denn andererseits profitiert sie längst von den rasanten Fortschritten bei der künstlichen Intelligenz. Erst im vergangenen Jahr hat eine KI den Beatles zu einem neuen Hit verholfen – mehr als 50 Jahre nach Auflösung der Kultgruppe und obwohl nur noch zwei der Bandmitglieder, Paul McCartney und Ringo Starr, leben.

Aus einer alten Demo-Aufnahme wurde die Stimme von John Lennon mithilfe von KI herausgelöst und für eine neue Aufnahme verwendet. Die vollendete Version von „Now and Then“ wurde im vergangenen Jahr veröffentlicht. Ohne KI wäre dieser Prozess nicht möglich gewesen.

Im Fall des Beatles-Songs war KI in erster Linie aber restaurativ und nicht generativ, gibt Antonuccio von der Ohio University in seinem Beitrag zu bedenken. Das bedeutet: Die künstliche Intelligenz hat lediglich menschengemachte Kunst verbessert und nicht selbst geschaffen.

Bei Seth Davis ist das anders. Dem Schlagzeuger gelingt es längst, mit KI-generierten Hits sein Publikum zu begeistern. Sein bislang erfolgreichster Song: ein Country-Hit über eine schmutzige Liebesbeziehung. Immerhin 7,6 Millionen Menschen haben sein Video dazu bereits angeschaut.

Laurin Meyer ist Wirtschaftskorrespondent der WELT in New York. Er berichtet vor allem über die amerikanische Wirtschaftspolitik, deutsche Unternehmen in den Vereinigten Staaten und Big Tech. Er ist außerdem Co-Host des WELT-Podcasts „Alles auf Aktien“.

Source: welt.de

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