Museumsinsel in Hiroshima: Womit Putin jener Welt droht

Als die amerikanische Air Force am 6. August 1945 um 8:15 Uhr die Atombombe über Hiroshima abwarf, war Sadako Sasaki zwei Jahre alt. Sie überlebte das Inferno und wuchs zu einem scheinbar gesunden Mädchen heran. „Dann, in der sechsten Klasse, entwickelte sie plötzlich Leukämie“, steht auf einer Tafel in den engen, dunklen Gängen des Hiroshima Peace Memorial Museum. Darüber ein Foto, das Sasaki im Kreis ihrer Leichtathletik-Mannschaft zeigt: Sie trägt ein weißes Haarband, hält den Staffelstab in den Händen und schaut mit ernstem Blick in die Kamera. Acht Monate später starb sie. Sasaki war zwölf Jahre alt.

Sasakis Geschichte wirkt fast wie eine Randnotiz zwischen all den Fotos von verkohlten Leibern und Exponaten wie den Stufen der Sumimoto Bank, auf denen die Hitze der Bombe den Schatten eines Menschen eingebrannt hat, der dort saß, als die Druckwelle über die Stadt fegte. Der Horror der Ausstellung spült über den Besucher hinweg, man kann das Ausmaß der Zerstörung kaum begreifen. Die Geschichte von Sasaki hingegen lässt sich verstehen: Ein Mädchen wird geboren, überlebt, und stirbt Jahre später an den Folgen der Strahlung. Sasakis Geschichte bleibt bei einem.

Hätte man als Besucher aus Europa vor zehn Jahren die Ausstellung in Hiroshima besucht, wäre auch das ein einschneidendes Erlebnis gewesen. Nur eben Vergangenheit, Schwarzweißfotos, Stoff fürs Museum. Nickend wäre man an den Friedensdenkmählern auf der Insel inmitten des Ota-Flusses entlanggeschlendert, in dieser seltsam artifiziellen, von Grund auf neugebauten Stadt. So etwas darf nie wieder passieren, hätte man damals gedacht. Der damalige US-Präsident Barack Obama trieb zu dieser Zeit seine Global Zero-Initiative voran, die eine vollständige nukleare Abrüstung bis zum Jahr 2030 zum Ziel hatte. Eine Welt ohne Atomwaffen schien, wenn auch nicht in unmittelbarer Reichweite, so doch nicht völlig unrealistisch.

Heute aber spürt man als Europäer beim Gang durch die ohnehin bestürzende Ausstellung eine Enge in der Brust. Denn Russland führt Krieg in Europa, hat die Ukraine überfallen, tötet Zivilisten, entführt Kinder, zerstört Museen und Schulen, raubt Land. Und alle paar Wochen drohen Wladimir Putin, sein Vorgänger und Lakai Dmitrji Medwedew und seine Fernseh-Generäle dem Westen mit dem Unsagbaren: dem Einsatz der Atombombe. Mit einem neuen Hiroshima.  

Was weiß man heute noch über den ersten Abwurf der Bombe auf ein ziviles Ziel? „Little Boy“, so hatte die U.S. Air Force sie genannt, fiel zuerst auf Hiroshima, drei Tage später wurde „Fat Man“ über dem 300 Kilometer entfernten Nagasaki aus einem B-29-Bomber ausgeklinkt. In Erinnerung geblieben ist die Luftaufnahme der mushroom cloud, der pilzförmigen Wolke, die sich über Nagasaki erhebt – eine düstere Ikone. Infolge der Atombomben-Angriffe erklärte der japanische Kaiser Hirohito die Kapitulation, die Kämpfe im Pazifik endeten und mit ihnen der Zweite Weltkrieg. Das ist die Rahmenhandlung.

Im Museum von Hiroshima lernt man die Details kennen. Die Bombe wurde 600 Meter über der Stadt gezündet, eine Hitzewelle von 3000 bis 4000 Grad zermalmte alles im Umkreis von mehreren Kilometern. In der Ausstellung zeugen unförmige Brocken aus verschmolzenem Stahl und Stein von der enormen Energie. Auf die Druckwelle folgte das Feuer, die Stadt, bereits durch konventionelle amerikanische Luftangriffe stark beschädigt, stand innerhalb kürzester Zeit in Flammen. Auf das Feuer folgte der radioaktive Regen, von dem die verdurstenden Menschen in der brennenden Stadt zu tausenden tranken und in den Wochen darauf an der Strahlenkrankheit starben. 100.000 Menschen kamen durch die Druckwelle und das Feuer zu Tode, 130.000 verendeten noch im selben Jahr an den Folgeschäden. 

In der Lobby des Museums dann eine Tafel, die über die Entwicklungen der Nuklearwaffentechnik nach 1945 informiert. Auf den atomaren Wettlauf zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten folgte der erste Test einer Wasserstoffbombe durch die USA: „Die explosive Kraft erreichte zehn Megatonnen. 625-mal mehr als die Bombe von Hiroshima.“

Was ist das für ein Staat, was sind das für Männer, die heute damit drohen, so etwas noch einmal anzurichten? Und was lehrt der Horror des Museums von Hiroshima das nuklear bedrohte Europa?

Man mag meinen, alles sei ganz simpel: Damit so etwas nicht noch einmal passiert, muss man sich den Drohungen der russischen Regierung fügen, die Unterstützung für die Ukraine einstellen, so schnell wie möglich irgendeinen Frieden herbeiführen. Das wäre genau der falsche Schritt. Die Vorstellung, die Ukraine ließe sich opfern, damit endlich wieder Ruhe einkehrt, ist naiv.

Nicht nur würde Putin sich wohl gleich das nächste Land vorknüpfen. Potentaten auf der ganzen Welt dürften sich die nukleare Erpressungsstrategie Russlands zum Vorbild nehmen: Nordkorea, Iran, Pakistan, sie alle streben entweder noch nach der Bombe oder besitzen sie bereits, bislang dient sie ihnen bloß als eine Art politische Lebensversicherung. Hätte Russland mit seinem Vorgehen Erfolg, würde die Atombombe über kurz oder lang zum gängigen Mittel internationaler Auseinandersetzungen werden. Erst dadurch würde sich das Risiko einer erneuten atomaren Katastrophe tatsächlich substanziell erhöhen.

Im Jahr 1994 gab die Ukraine die auf ihrem Staatsgebiet stationierten Atomwaffen ab, im Gegenzug dafür garantierten ihr Russland, das Vereinigten Königreich und die USA die Wahrung ihrer territorialen Integrität und die Einhaltung ihrer Grenzen. Warum sollte in Zukunft je wieder eine Atommacht ihre Nuklearsprengköpfe abgeben oder auch nur unter internationale Kontrolle stellen, wenn Putin nun ausgerechnet mit der Androhung eines Atomschlags die der Ukraine zugesagten Sicherheitsgarantien aushebelt? Nein, auf die Preisgabe der Ukraine und Appeasement gegenüber einem nuklearen Russland folgt nur das Zeitalter der Super-Proliferation.

Am Children’s Peace Memorial läutet ein Mädchen, vielleicht drei oder vier Jahre alt, mithilfe eines Stricks eine Glocke. Das Kind läuft zurück zu seiner Mutter, greift ihre Hand. Gemeinsam schlendern die beiden hinüber zu dem Beet, aus dem die Stockrosen blühen.

Als die amerikanische Air Force am 6. August 1945 um 8:15 Uhr die Atombombe über Hiroshima abwarf, war Sadako Sasaki zwei Jahre alt. Sie überlebte das Inferno und wuchs zu einem scheinbar gesunden Mädchen heran. „Dann, in der sechsten Klasse, entwickelte sie plötzlich Leukämie“, steht auf einer Tafel in den engen, dunklen Gängen des Hiroshima Peace Memorial Museum. Darüber ein Foto, das Sasaki im Kreis ihrer Leichtathletik-Mannschaft zeigt: Sie trägt ein weißes Haarband, hält den Staffelstab in den Händen und schaut mit ernstem Blick in die Kamera. Acht Monate später starb sie. Sasaki war zwölf Jahre alt.

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