Lange war ich nicht mehr im Museum, also für meine Verhältnisse lange, meine ich, nämlich zuletzt im Mai, als ich in Köln ausländische Gäste mit ins Kolumba nahm. Bald darauf begann der Sommer, da bin auch ich lieber im Freien – aber es ist auch sonst so, dass ich die vielen Museen meiner Stadt seltener aufsuche, seit ich vor beinahe zehn Jahren ein Buch über Kunst veröffentlicht habe. Meine Neugier hatte ich im Schreiben aufgebraucht.
Bevor ich das Buch anfing, war ich ein normaler Museumsgänger, sofern man von sich selbst als „normal“ sprechen kann, ohne dass es absurd wird. Ich ging in Museen, wie andere in Parks gehen, also um mich zu zerstreuen. Zerstreuen, das klingt negativ, man denkt an Fernsehserien oder Computerspiele. Dabei ist es eigentlich etwas Wunderbares oder sogar existenziell, dass wir uns von Zeit zu Zeit verlieren, vergessen, auflösen, und wenn sie in der Natur geschieht oder in der Begegnung mit der Kunst, dann führt eben die Zerstreuung paradoxerweise zu Sammlung, Konzentration, Bereicherung.
Speziell Museen sind für die Zerstreuung wie gemacht. Im Theater, im Konzert, beim Lesen oder in einer Ausstellung ist man auf ein bestimmtes Werk oder eine Gruppe von Werken fokussiert, das ist ein anderer Vorgang. Im Museum hingegen – vielleicht ähnlich wie in einer Bibliothek – weiß man, was einen erwartet. Und weiß es wegen der schieren Menge an Objekten auch wieder nicht, so dass man jedes Mal etwas Unerwartetes entdeckt.
Als ich das Buch zu schreiben begann, wurde mein Blick professionell, was für einen Schriftsteller bedeutet, dass er alles – ob Menschen, Bücher oder Bilder – auf seine mögliche Verwertung hin prüft. Ich wurde zu einem dieser Typen, die ich in Museen vorher nur beobachtet hatte: Zwei, drei Bücher tragen sie unterm Arm, die sie vor den Gemälden aufschlagen, sie kritzeln in ein Notizbuch oder schieben sich eine Sitzbank heran, auf der sie den Laptop aufklappen. Das klingt anstrengend, jedenfalls nicht nach Spaß. Tatsächlich war es eine so schöne Zeit, mit dieser meiner Besessenheit, dass ich die Abgabe des Manuskripts sogar hinauszögerte, nur um noch ein paar mehr Museen auf der Welt besuchen zu können, in denen ich Stunden mit einem einzigen Gemälde verbrachte.
Als das Buch schließlich erschienen war, erhielt ich dauernd Anfragen für neue Bildbeschreibungen. Allein, ich konnte erst mal keine Bilder mehr sehen. Oder nein, ich konnte sie sehen, mir fiel nur nichts Originelles mehr auf. Das galt im Besonderen für die christliche Kunst, auf die ich mich kapriziert hatte, weshalb mich manche – nicht meine genauen Leser – für einen Experten hielten. Es galt aber auch für all die anderen Kunstrichtungen, für die Museen gebaut werden – ich merkte, ich müsste schon ein weiteres Buch schreiben, um noch einmal derart in Begeisterung zu geraten. Für mich, der in seinem Elternhaus nicht mit der bildenden Kunst aufgewachsen ist und sie nicht studiert hat, war es, als würde ich jemanden wiedertreffen, in den ich sehr verliebt war. Und traurig ist in der Liebe immer das Präteritum.
Wie sehr ich das ziellose Umherschweifen und interesselose Schauen vermisste, für das ich früher in Museen gegangen war, wurde mir erst bewusst, als ich aus der Zeitung von der Schließung des Pergamonmuseums zwecks Sanierung erfuhr: nicht für ein paar Wochen oder meinetwegen für zwei Monate, nein, für vierzehn Jahre. Und als gäbe es in Berlin keinen Verantwortlichen, der sich dafür schämt, ist die Schließzeit ohne viel Federlesens soeben auf vierundzwanzig Jahre verlängert worden – vierundzwanzig Jahre! Eine ganze Generation wächst auf, ohne jemals vor dem Ischtar-Tor stehen zu können, vor dem Pergamonaltar oder der Mschatta-Fassade. Um welche Zeitreisen die Jüngeren damit gebracht werden, um welches Staunen über die Welt und welche Ehrfurcht vor dem, was einmal war.
Nein, ich habe nicht jedes Mal, wenn ich in Berlin zu tun hatte, ein Museum besucht, auch nicht jedes zweite oder dritte Mal. Aber allein das Wissen, jederzeit ins Pergamon gehen zu können, wirkte sich auf meine Stimmung aus. Denn gleich, was der Tag bringen würde, ich wusste: Etwas Besonderes, im Zweifel Besseres gäbe es immer zu tun. Kein Tag ist verloren, den du mit Kunstschätzen verbringst.