Moritz Schularick: „Das Wachstum des nächsten Jahrzehnts wird nicht von den Autos kommen“

Herr Schularick, wie blicken Sie auf das neue Jahr?

Mit großer Sorge – dass wir die vielfäl­tigen Herausforderungen nicht mit der gebotenen Geschwindigkeit und dem gebotenen Mut angehen.

An welche denken Sie da?

Da sind die enormen Verschiebungen in der Weltwirtschaft in Richtung von China und den USA und die Sorge, dass Europa unter die Räder kommt, wenn wir nicht schnell enger zusammenrücken. Denn Europa ist jetzt allein in der Welt. Dann sind da die konkreten sicherheitspolitischen und ökonomischen Herausforderungen. Im Inland ist es der fehlende Reformwille. Der Herbststurm der Reformen, der angekündigt wurde, war ja dann doch eher ein laues Lüftchen.

Einiges hat sich durchaus verändert. Die Grundgesetzänderung im Frühjahr hat es ermöglicht, dass der Staat nun viele Milliarden Euro zusätzlich ausgeben kann, finanziert aus Schulden.

Wir verändern uns in Deutschland, aber immer noch nicht schneller als der Rest der Welt, sodass der Rückstand nicht kleiner wird. Es ist gut und richtig, dass wir eine halbwegs stabile Bundesregierung haben und dass wir in der Vertei­digung des Landes finanziell handlungsfähig sind. Stellen Sie sich vor, wir müssten die aktuellen Debatten um Rente und Sozialstaat führen und gleichzeitig die Finanzierung der Verteidigung aus dem regulären Haushalt stemmen. Das hätte das Land vor eine Zerreißprobe gestellt.

Sie waren einer der vier Ökonomen, die im März den Vorschlag für die Reform der Schuldenbremse gemacht haben. Hatten Sie damals zu viel Vertrauen in die Politiker, dass die nicht einfach Investitionen aus dem regulären Haushalt verschieben?

Wir hatten ja explizit davor gewarnt. Und richtig ist auch, dass nicht immer klar abgrenzbar ist, was Investitionen sind und was nicht. Man muss da auch nicht immer gleich bösen Willen unterstellen. Dass man dann aber im gleichen Atemzug die Mütterrente, die Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie und die höhere Pendlerpauschale verspricht – alles Dinge, die ökonomisch nicht zu rechtfertigen sind –, das hat dieser Diskussion erst die Schärfe gegeben, und zwar zu Recht. Wir ändern das Grundgesetz, um Schulden zu ermöglichen, und haben wegen sinnloser Wahlgeschenke sechs Monate später wieder eine Haushaltskrise, das kann man dem Land nicht erklären.

Macht der zusätzliche Spielraum durch die Schulden es nicht überhaupt erst möglich, notwendige Reformen zu verschieben?

In der Enttäuschung über diese Regierung vermischen sich zwei Dinge. Zum einen die Frage: Gibt die Regierung das Geld, das zur Verfügung steht, gut und sinnvoll aus? Hier muss man konstatieren, dass sie das bisher nicht besonders gut macht. Weder bei der Verteidigung noch bei der Infrastruktur oder dem Wohnungsbau sehe ich ein überzeugendes Konzept. Zum anderen die Frage, ob man von dieser Regierung grund­legende Sozialstaatsreformen erwarten kann. Da war ich von Anfang an skeptisch. Schwarz-Grün hätte wahrscheinlich mehr geliefert. Die sogenannte große Koalition ist ja geradezu die Verkörperung des alten bundesrepublika­nischen Sozialmodells. In dieser Konstellation wird es sehr schwer, grund­legende Veränderungen vorzunehmen. Meine Enttäuschung kommt insofern eher daher, als nicht einmal die niedrig hängenden Früchte gepflückt werden, also dass das Geld nicht besser ausgegeben wird oder auch die EU-Binnenmarktagenda ohne Nachdruck verfolgt wird.

Was meinen Sie konkret?

Nehmen Sie die Verteidigungsausgaben. Wir geben jetzt strukturell zwei Prozent des BIP mehr für die Verteidigung aus, rund 100 Milliarden zusätzlich pro Jahr. Wir reden über 500 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben bis zum Ende des Jahrzehnts. Wenn man so viel Geld ausgibt, dann hätte man schon gern ein Konzept. Wir haben es aber bis heute nicht geschafft, eine Strategie zu vorzulegen, wie wir das Geld sinnvoll ausgeben und gleichzeitig mehr Sicherheit und europäische Unabhängigkeit, industrielle Impulse und ein technologisches Upgrade hinbekommen. Wir machen im Prinzip so weiter wie bisher, nur mit mehr Geld. Wenn sich nichts ändert, werden wir bis zum Ende des Jahrzehnts im Blindflug eine halbe Billion ausgeben und am Ende genauso abhängig sein von den USA wie bisher. Das geht besser.

Geben Sie ein Beispiel.

Die Bundeswehr gibt aktuell weniger als ein Prozent ihres Budgets für Forschung und Entwicklung für neue Tech­nologien aus. In den USA sind es 15 Prozent. Wir finanzieren gerade mit viel Geld die Armee von gestern. Wir nutzen das Geld viel zu wenig, um in Künstliche Intel­ligenz, in Robotik und autonome Systeme zu investieren, in all das, was in der Ukraine schon heute Alltag ist in der Kriegsführung. Oder auch um von den USA unabhängig zu werden bei Aufklärung, Kommunikation und Daten. Weit über 90 Prozent unserer Ausgaben fließen bisher in Altsysteme, in Panzer oder in Flugzeuge, die nur abheben, wenn die Amerikaner uns den Code geben. Das ist in vielerlei Hinsicht nicht nur kurzsichtig, sondern auch fahrlässig.

Panzer brauchen wir aber schon auch.

Das bestreitet auch niemand. Die Frage, wie effektiv diese noch sind, müssen letztlich die Militärs beantworten. Aber wir stellen auch hier nicht die richtige Frage. Es geht nicht darum, wie viele Panzer oder wie viel Munition wir kurzfristig bestellen. Wir müssen industrielle Produktionskapazitäten planen und aufbauen. Wie viele Drohnen, Raketen und Flugzeuge sollten wir in der Lage sein in einem Jahr zu produzieren? Und mit welchen Anreizen wie kommen wir da schnell hin? Dementsprechend müsste man heute sagen: Wir bestellen nicht Stückzahlen, sondern schreiben Produktionskapazitäten aus. Denn die Unternehmen haben keinen Anreiz, heute industrielle Fertigung aufzubauen, die nur dann gebraucht wird, wenn es einen Konflikt gibt. Als Gesellschaft haben wir daran aber ein enormes Interesse, diese Kapazitäten zu haben. Zum einen wird es billiger, wenn wir vom Manufakturbetrieb zur industriellen Produktion übergeben. Zum anderen sieht Moskau ja auch, ob Deutschland und Europa imstande sind, im Kriegsfall industriell zu bestehen und nachzuproduzieren. Das schreckt ab. Russland stellt aktuell 12.000 iranische Shahed-Drohnen im Monat her. Wie wollen wir die eigentlich abfangen können? Wir können nicht erst 2028 oder 2029 überlegen, wie wir Abwehrdrohnen oder günstige Flugabwehr in großen Stückzahlen produzieren.

Hat die Regierung bisher auch irgendetwas gut gemacht?

In der Außenpolitik hat sich Deutschland sicher wieder als zentraler Akteur in Europa etabliert. Ich denke, dass der Kompromiss zur Unterstützung der Ukraine, der in Brüssel gefunden wurde, letztlich auch ein Erfolg ist. Der mit Abstand kostengünstigste Weg zu mehr Sicherheit in Deutschland und Europa ist, die Ukraine mit allem zu unterstützen, was sie braucht. Auch bei der Digitalisierung und Staatsmodernisierung gibt es zumindest jetzt eine konkrete Vorstellung, was das Ziel ist. Die Umsetzung bleibt noch offen.

Sind die Vorschläge für die Staatsmodernisierung für Sie überzeugend?

Ich bin zunächst mal froh, dass das Thema jetzt prominent auf den Tisch kommt. Ein großer Teil der Unzufriedenheit und auch des Populismus, den wir im Land haben, hat damit zu tun, dass die Bürgerinnen und Bürger es im täglichen Leben regelmäßig nicht mehr mit einem funktionierenden Staat zu tun haben, von der Bahn, den Schulen, dem Gesundheitssystem bis hin zu den Bürgerämtern.

Gleichzeitig scheint es vielen Menschen in Deutschland subjektiv immer noch ganz gut zu gehen. Müsste es den Menschen erst noch schlechter gehen, bevor sich etwas verändert?

Das ist eine gefährliche Logik. Das hat schon der Hungerkanzler Heinrich Brüning versucht, in der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre. Die Rente ist ja nur ein Teil eines größeren Themas: der Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft. Wir werden unseren Wohlstand mit einem vernünftigen Gesundheitssystem, mit guter sozialer Absicherung nur erhalten können, wenn wir Wachstum haben, und müssen uns dafür massiv verändern. Zurzeit ist vielen in Deutschland immer noch nicht klar, wie sehr unser Wirtschaftsmodell mit seinem Schwerpunkt auf den Industrien des 20. Jahrhunderts gefährdet ist: durch China, aber auch durch die technologischen Veränderungen. Wir sind eine Gesellschaft, die rückwärts in die Zukunft geht. Selbst wenn wir in fünf Jahren noch eine substantielle Autoindustrie in Deutschland haben: Niemand wird mit gutem Gewissen behaupten, dass das  Wachstum des nächsten Jahrzehnts von den Autos kommen wird.

Lässt sich die schleichende Deindus­trialisierung Deutschlands noch aufhalten?

Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung wird weiter zurückgehen. Aber wir können nicht einfach zuse­hen, wie China zentrale Teile der euro­päischen Industrie im Handstreich er­ledigt. Das gilt insbesondere für die Bereiche, in denen wir Wachstumschancen haben: bei den Klimatechnologien, der Elektromobilität, Robotik, Präzisionsmedizin. In der Weltwirtschaft stehen wir aktuell zwei 500-Kilo-Gorillas gegenüber, den USA und China, die nicht mehr nach den Regeln spielen, die wir eigentlich vereinbart hatten. Denen gegenüber müssen wir uns anders positionieren. Dazu gehört auch, dass wir mit alten Glaubenssätzen aufräumen und zum Beispiel den Marktzugang in Europa strategisch als Chip in den Verhandlungen einsetzen. Gegenüber dem Rest der Welt sollten wir weiterhin freihändlerisch, offen und regelbasiert unterwegs sein, und ich hoffe sehr, dass Mercosur und andere Freihandelsabkommen schnell umgesetzt werden. Aber gegenüber China und den USA müssen wir uns gemeinsam als Europäer positionieren und uns Respekt verdienen, indem wir Dinge tun, die man nicht von uns erwartet. Keiner rechnet ja damit, dass wir Stärke zeigen. Washington und Peking sind sich zumindest darin einig, dass beide Europa schon abgeschrieben haben.

Beim Zolldeal im Sommer hat das schon mal nicht geklappt. Irgendein Mitgliedsland knickt früher oder später immer ein.

Das ist ein ganz offensichtlicher Punkt. Wir werden in dieser neuen Weltwirtschaft unter die Räder geraten, wenn wir in entscheidenden sicherheitspolitischen Fragen erpressbar sind und uns als Europäer auseinanderdividieren lassen.

Muss das dann Autarkie bedeuten? Die Ausfuhrbeschränkungen auf chinesische Seltene Erden sind nur für ein Jahr ausgesetzt, dafür werden wir eine Lösung brauchen.

Das Thema Wirtschaftssicherheit ist letztlich eine politisch korrekte Umschreibung dafür, dass wir uns weder von den USA noch von China erpressen lassen wollen. Aktuell können das diese beiden Länder, und tun das auch, jeder auf seine Weise. Ich denke, alles, was für die Sicherheit relevant ist – Drohnen, Satel­liten, Raketen – müssen wir selber machen können. Dafür müssen wir auch bereit sein, entsprechend zu investieren und unsere Lieferketten zu diversifizieren und etwa die Aufbereitung von Seltenen Erden in anderen Ländern als China aufzubauen. All dies werden Eingriffe in den Markt sein, die Geld kosten. Denn es gibt ja ökonomische Gründe, warum die Produktion aktuell in China konzentriert ist: Die Chinesen machen es am billigsten.

Wie kann man dafür die Anreize schaffen?

Unser künftiger Wohlstand hängt daran, dass wir in dieser rauen Weltwirtschaft unsere ökonomischen Interessen vertreten können. Aber solange wir von China und den USA erpressbar sind, ist Europa immer in der Defensive. Konkret kann der Staat entweder über Absatzgarantien oder über Beteiligung an Investitionen dafür sorgen, dass wir unsere Nachfrage diversifizieren und Erpressbarkeit reduzieren. Letztlich müssen wir bereit sein, kurzfristig Sand ins Getriebe des Welthandels zu streuen, um ihn langfristig zu erhalten. Wir versichern uns gegen Erpressbarkeit. Klar ist auch: Es gibt keine ordnungspolitisch korrekte Bedienungsanleitung für diese neue Weltwirtschaft. Pragmatismus ist gefragt.

Kann Sand ins Getriebe auch bedeuten, selbst mit Zöllen gegen diese Länder vorzugehen?

Oder mit Marktzugangsbeschränkungen gegenüber bestimmten Ländern. Das wäre zumindest kompatibel mit den Regeln der Welthandelsorganisation. Denn wir sollten nicht auch noch selbst aktiv die Welthandelsordnung aushebeln. Aber wir könnten sagen: Der Zugang für chinesische Autos, chinesische Batterien ist abhängig von bestimmten Kriterien: lokale Produktion in Europa, Joint Ventures, Technologietransfer. Genauso haben es die Chinesen mit uns auch gemacht.

Die Aussichten fürs neue Jahr klingen ziemlich trübe. Gibt es denn zumindest irgendeinen Lichtblick?

Die Hoffnung ist, dass all diese Themen immer mehr an Aktualität gewinnen und von Tag zu Tag der Druck im Kessel steigt. Und das ist immer der Mechanismus gewesen, wie Deutschland und Eu­ropa in die Gänge kommen. Wir haben ja alle schon den ein oder anderen dieser EU-Zyklen mitgemacht. Es muss immer erst Spitz auf Knopf stehen, damit etwas Großes möglich wird. Außerdem sind die Erwartungen so im Keller, dass es gar nicht viel braucht, um sie zu übertreffen.

Schlimmer kann es nicht mehr werden?

Es ist schon bemerkenswert, dass wir so viel öffentliches Geld in die Hand nehmen, und trotzdem so wenig Wirtschaftswachstum herauskommt. Irgendwann stoßen Sie an die Grenzen der Mathematik.

Optimistisch stimmt das nicht gerade.

Wir erleben gerade den perfekten Sturm. Wir haben Reformbedarf im Innern, eine Weltwirtschaft, die sich überhaupt nicht in unsere Richtung entwickelt – und wir haben ein Staatswesen in der Krise. Da sollte man nichts schön­reden. Aber denken Sie mal daran, wie schnell wir im März das Grundgesetz geändert haben. Vielleicht sprechen wir Ende nächsten Jahres wieder, und wir haben eine europäische Armee gegründet. Wenn der Handlungsdruck groß ist, dann werden Dinge möglich, die heute noch unvorstellbar sind. Und darauf steuert Europa im nächsten Jahr zu. Denn sicher ist, dass Trump, Putin und Xi sich nicht ändern werden.

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