Der Wal ist nicht zu fassen: Mal ragt nur seine Schwanzflosse empor, mal erhebt sich sein Rücken aus den Wellen, mal durchstößt sein Kopf die Wasseroberfläche, nie aber zeigt er sich in voller Größe. Selbst wenn er, von Lanzen durchbohrt, am Walfangschiff vertäut liegt, lässt sein blutender Leichnam nur matt erahnen, wie er aussieht, wenn er lebendig seine Bahn zieht. Ein „grandioses, verhülltes Phantom“ nennt ihn Ishmael, der Erzähler aus Herman Melvilles epochalem Roman Moby-Dick – unmöglich, es zu begreifen: „Der lebende Leviathan“ sei „noch nie im Meer Porträt geschwommen“, ja er sei „das einzige Wesen auf der Welt […], welches bis zuletzt ohne Bildnis bleiben muß“.
Der unverdrossene Ishmael versucht es trotzdem, über rund 900 Seiten hinweg, bis er eine Erzählung erschaffen hat, die selbst zu groß und zu vielgestaltig ist, um sie noch fassen zu können. „Moby-Dick“, schreibt der Amerikanist und Melville-Forscher Daniel Göske im Nachwort zu Matthias Jendis’ Übersetzung von 2001, „ist […] der Walbulle im Karpfenteich der Romanliteratur“.
Tatsächlich ist so ziemlich alles an diesem knapp 175 Jahre jungen Werk walhaft und enorm. Nicht zuletzt die Diskrepanz zwischen der Schlichtheit des Plots und der Komplexität der Erzählung. Ein von Rachedurst gequälter Kapitän – Ahab – will den weißen Pottwal Moby Dick erlegen, der ihm einst das Bein zermalmt hat, und nimmt am Ende seine Mannschaft mit in den Tod. Nur einer überlebt: Ishmael, der Zeugnis ablegt von dem Unfassbaren, das er erlebt hat. Und so schreibt er und schreibt, den Wal wie ein Buch lesend, einen Wal von einem Buch. Einen Abenteuerroman, dessen größtes Abenteuer es ist, ihn zu lesen – sich mit Ishmael auf unsicheren Boden zu wagen und zu merken: Der Wal ist ein Monstrum und eine gejagte Kreatur. Noch mehr aber ist er ein Erkenntnisproblem.
Wahrscheinlich gab es in der Geschichte immer wieder Momente, in denen die Menschen dieses Gefühl erfasste: keinen festen Grund mehr unter den Füßen zu haben. Herman Melville, ein Zeuge der industriellen Revolution, kannte dieses Gefühl. Die Leserinnen und Leser, die seinen Moby-Dick in den turbulenten 1920er-Jahren wiederentdeckten, kannten es. Heute geht es vielen wohl nicht anders. Zumindest dürfte es kein Zufall sein, dass sich nach der Jahrtausendwende eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern ausgerechnet Moby-Dick ausgesucht hat für ein Projekt, das so rar und ungewöhnlich ist wie ein weißer Wal: Über fast zwei Jahrzehnte haben sie alle 135 Kapitel des Romans (plus Vorbemerkung und Epilog) einzeln kommentiert.
Seit 2012 sind ihre Betrachtungen in Deutschlands ältester Kulturzeitschrift, der Neuen Rundschau, erschienen (neuerundschau.de); für 2025 steht eine wohl mehr als 2.000 Seiten dicke Gesamtausgabe bei S. Fischer in Aussicht. Ein leviathanisches Paket! Und es ist ein Vergnügen, darin zu stöbern, denn die Autoren zerren den Wörterwal nicht ins Trockendock, sondern tun alles, um das Meer an Bezügen und Verweisen, in dem er schwimmt, noch uferloser zu machen. Da finden sich Recherchen zur Geschichte der Patchworkdecke und des Tätowierens ebenso wie ein Essay, der im Flensen (dem „Abspecken“ des Walkadavers) die Schlachthöfe von Chicago und das Fließband bei Ford vorweggenommen sieht.
„Historisch-spekulativ“ nennen die drei Initiatoren – Markus Krajewski und Harun Maye von der Universität Basel und Bernhard Siegert von der Bauhaus-Universität Weimar – ihre Methode. Die Kommentare sollen den Text aus seiner Zeit heraus begreifen, ihn aber auch spielerisch auf spätere Phänomene beziehen. So pflegen sie die hohe Melvillesche Kunst, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, ohne sich in Beliebigkeit zu verlieren.
Bernhard Siegert hat Melvilles Roman schon als Junge verschlungen, erzählt er bei einem gemeinsamen Treffen in seiner Berliner Wohnung – „allerdings in einer verstümmelten Version für junge Leser, reduziert auf die Abenteuerhandlung“. Markus Krajewski hat den Moby-Dick eines Sommers als Urlaubslektüre mit auf die Kykladen genommen und dachte: „Das ist der absolute Wahnsinn!“ Harun Maye hat ihn erstmals aufgeschlagen, als das Projekt 2006 mit einer ersten Konferenz startete, aber da, sagt er im Gespräch, „wusste ich natürlich schon allerhand, vor allem wie großartig und bedeutend das Buch sei“.
Was auch einschüchtern kann. Moby-Dick ist ein Wal, der Wale gebiert. Die Belesenheit seiner Kenner, der schiere Umfang, die Aura des Meisterwerks, gesteigert durch die Tatsache, dass es zu Melvilles Lebzeiten verkannt wurde – das alles türmt sich so unbezwingbar auf, dass man eigentlich nur scheitern kann. Im Kommentarteam ließ man zumindest die allzu einschlägige Sekundärliteratur links liegen: Man wollte sich bewusst auf neue Spuren begeben.
Der Wal ist nicht zu fassen: Mal ragt nur seine Schwanzflosse empor, mal erhebt sich sein Rücken aus den Wellen, mal durchstößt sein Kopf die Wasseroberfläche, nie aber zeigt er sich in voller Größe. Selbst wenn er, von Lanzen durchbohrt, am Walfangschiff vertäut liegt, lässt sein blutender Leichnam nur matt erahnen, wie er aussieht, wenn er lebendig seine Bahn zieht. Ein „grandioses, verhülltes Phantom“ nennt ihn Ishmael, der Erzähler aus Herman Melvilles epochalem Roman Moby-Dick – unmöglich, es zu begreifen: „Der lebende Leviathan“ sei „noch nie im Meer Porträt geschwommen“, ja er sei „das einzige Wesen auf der Welt […], welches bis zuletzt ohne Bildnis bleiben muß“.