Wenn wir das richtig hinkriegen, werden wir ein neues Goldenes Zeitalter haben, vielleicht sogar eine neue Renaissance erleben“, sagt Demis Hassabis. Mit dem Wort „das“ meint er die Künstliche Intelligenz, jene Schlüsseltechnologie, mit der Wissenschaftler, Unternehmenslenker und Politiker gegenwärtig enorme Chancen und gewaltige Gefahren verbinden. Hassabis weiß genau, wovon er spricht. Der britische Neurowissenschaftler forscht schon seit Jahren an Computern, die dem Gehirn näherkommen sollen. Er strebt danach, zu entschlüsseln, was die menschliche Intelligenz ausmacht, ihre Essenz offenzulegen – und dann künstlich nachzubilden. Gemeinsam mit zwei anderen Fachleuten gründete er im Jahr 2010 das KI-Unternehmen Deepmind, das nach wenigen Jahren vom Internetkonzern Google übernommen wurde.
Die Deepmind-Tüftler sorgen regelmäßig für Aufsehen. Sie konstruierten Programme wie AlphaZero oder AlphaGo, die sich selbst Schach und das ungleich komplexere Brettspiel Go beibrachten und danach nicht nur die jeweils besten Spieler bezwangen, sondern auch die führenden Computerprogramme, die ihrerseits schon übermenschlich spielstark waren. Für Hassabis, der als Kind selbst erfolgreich Schach spielte und später Computerspiele entwickelte, war dies aber nur der Beginn. „Videospiele oder Spiele generell sind der logische Anfang gewesen, um KI zu verstehen und zu erschließen, aber sie sind nur ein Mittel zum Zweck“, sagt er und fügt hinzu: „Inzwischen ist die KI mächtig genug, um echte Probleme zu lösen.“
Erleben kann das inzwischen nahezu jeder. KI steckt in zahlreichen Anwendungen, die Milliarden Menschen rund um den Globus nutzen wie Suchmaschinen oder Chatbots. Sie beeinflusst und beflügelt indes auch einen viel grundlegenderen Prozess: sie erleichtert und verschiebt die Möglichkeiten des Denkbaren und Berechenbaren und wälzt die Wissenschaft um.
Der KI-Einsatz in der Biologie
Wie KI die Wissenschaft gegenwärtig verändert, haben Fachleute nun während einer Konferenz an der Royal Society in London diskutiert, an der zahlreiche Spitzenwissenschaftler teilnahmen, darunter eine ganze Reihe Nobelpreisträger. Ein hochbrisantes Thema reicht zurück bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts: James Watson und Francis Crick machten damals das Doppelhelix-Modell der DNA bekannt und legten damit eine Kerneigenschaft des menschlichen Erbgutes offen. Zwei andere Forscher, John Kendrew und Max Perutz, befassten sich während dieser Zeit mit einem vielseitigen chemischen Werkzeug, ohne das Leben und Lebenserhaltung nicht möglich wären: Sie analysierten Proteine. Diese braucht es, um beispielsweise Muskeln aufzubauen, Enzyme zu formen oder dafür zu sorgen, dass eine Zelle mit anderen Zellen kommuniziert. Alle bekannten Proteine bestehen ihrerseits aus Aminosäuren, die in unzähligen Variationen miteinander kombiniert und aufgereiht werden können. Kendrew und Perutz gelang es, mittels einer Methode namens Röntgen-Kristallographie zu demonstrieren, dass sich diese Aminosäureketten zu dreidimensionalen Strukturen falten. Sie waren die Ersten, die entsprechende Proteinmodelle präsentierten – ein Forschungsdurchbruch, der ihnen den Nobelpreis einbrachte. Denn eine tiefere Einsicht in diese grundlegenden Biobausteine ist zentral, um das Leben selbst besser zu verstehen.
Wenige Jahre später fand der amerikanische Biochemiker Christian Anfinsen dann heraus, dass sich besagte dreidimensionale Proteinfaltung genau daraus ergibt, in welcher Reihenfolge die Aminosäuren aneinander aufgereiht sind, sich also aus dieser Verkettung vorhersagen lässt. Auch für diese Erkenntnis gab es den Nobelpreis. Zugleich entstand daraufhin letztlich ein regelrechter Forschungswettstreit mit dem Ziel, für möglichst viele Proteine die entsprechenden dreidimensionalen Faltungen vorherzusagen. Das erwies sich als ein oft zeitintensiver Prozess, der mitunter sogar Jahre dauerte. „Ich erinnere noch an die Zeit, als wir gerade einmal 20 Proteine so entschlüsselt hatten“, sagt die britische Bioinformatikerin Janet Thornton, eine mehrfach ausgezeichnete Forscherin, die das European Bioinformatics Institute (EBI) leitete. Inzwischen ist dieses Proteinfaltungs-Problem gelöst – mittels Künstlicher Intelligenz. Doch dazu später mehr.
Zunächst zu Jennifer Doudna, die sich schon als Kind dafür interessierte, was sich in der DNA verbirgt, und die fasziniert war von der Idee, diesen biologischen Code zu knacken. Im Jahr 2011, also ein Jahr nachdem Hassabis Deepmind gegründet hatte, traf Doudna in einem Café in Puerto Rico die Wissenschaftlerin Emmanuelle Charpentier. Doudna und Charpentier fanden genauer heraus, wieso das Immunsystem von Bakterien in der Lage ist, Viren abzuwehren. Sie entdeckten und beschrieben einen Mechanismus, der unter dem Kürzel CRISPR/Cas9 in Fachkreisen bekannt ist und breiter für Diskussionen sorgte unter dem Begriff „Genschere“. Letztlich machten beide – und dafür ebenfalls mit dem Nobelpreis prämiert – ein Instrument erklärbar und nutzbar, mit dem das menschliche Erbgut gezielt verändert werden kann. „Wir können die DNA präzise manipulieren“, sagt sie: „Und Künstliche Intelligenz beschleunigt das.“
Bessere CO<sub>2</sub>-Speicher in Pflanzen
Diese auf vielen mittlerweile verfügbaren Daten basierende Technologie ermögliche, Enzyme effizienter herzustellen und sie leichter therapeutisch anzuwenden. „KI macht Behandlungen schlicht und einfach billiger.“ Doudna hofft, mittels KI zwei grundlegende Einsatzbereiche der Genschere zu revolutionieren: die Behandlung auch bislang als unheilbar geltender Krankheiten. Und die Bekämpfung des Klimawandels. Sie sagt bessere CO2-Speichermöglichkeiten in Pflanzen voraus. Und sie nennt als ein konkretes Einsatzbeispiel auch, den Methanausstoß von Kühen zu senken, in das Kuh-Mikrobiom so einzugreifen, dass sich der Metabolismus entsprechend anpasst.
Dass solche Ideen nicht nur begeistern, sondern viele Menschen gruseln können, weiß sie durchaus. Und auch, dass die wohl heikelste Frage auf ihrem Forschungsfeld diejenige ist, ob und wie sich das menschliche Genom umschreiben lässt von erkrankten wie von gesunden Menschen. „Die Öffentlichkeit muss unbedingt eingebunden sein, es braucht den Austausch auf nationaler und internationaler Ebene.“ Und es brauche einen viel größeren interdisziplinären Austausch in der Forschung selbst, mahnt Paul Nurse, der kurz nach der Jahrtausendwende den Nobelpreis dafür bekommen hat, dass er maßgeblich erhellte, was hinter der Zellteilung steckt. „Wir erleben eine Zunahme der Komplexität und müssen dringend die Silo-Bildung in der Wissenschaft aufbrechen.“ Die ist tatsächlich längst im Gange. Mathematiker, Physiker, Informatiker, Biologen, Chemiker, Mediziner, Neuro- und Sozialwissenschaftler arbeiten zusammen, um gemeinsam weiterzukommen. Denn häufig sind die wissenschaftlichen Methoden ähnlich anspruchsvoll wie die Forschungsgegenstände, die sie erklären sollen. Es braucht Fachleute, die komplexe KI-Systeme konstruieren und neueste Lern-Algorithmen auf die jeweiligen Fragestellungen zuschneiden können. Das ist keine Kleinigkeit. Und natürlich braucht es diejenigen, die sich mit Molekülen, Zellen, Krankheiten, Klimatheorien oder Hirnforschung auskennen.
Wer Hassabis, Doudna oder Nurse zuhört, der ahnt, was gerade auf dem Spiel steht: Es geht tatsächlich darum, die Gesetze der Biologie so genau zu ermitteln wie die der Physik oder Mathematik. Der am Helmholtz-Institut in München forschende Informatiker Fabian Theiss bringt eine Vision auf den Punkt, die auch Hassabis und andere teilen: „Wir wollen eine virtuelle Zelle kreieren und letztendlich vielleicht sogar den ganzen Körper virtuell abbilden.“ Dann ließe sich noch viel besser simulieren, was passiert, wenn sich die eine oder andere Eigenschaft ändert, absichtlich oder unabsichtlich. Noch geht das nicht, fehlen entsprechende Daten in ausreichender Menge, und auch die Computerprogramme sind noch nicht so weit. Doch die Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz sind nach Ansicht vieler Forscher sehr ermutigend. Wenn sie von Künstlicher Intelligenz sprechen, dann meinen sie einerseits die KI-Systeme, die hinter bekannten Sprachmodellen wie ChatGPT, Claude oder Gemini stecken. Aber auch andere Modellarten.
Wohlstand durch KI
An Ideen mangelt es nicht. Inzwischen arbeiten Fachleute daran, mithilfe von KI solche Enzyme zu formieren, die Plastik abbauen. Sie wollen mit KI stabileres Plasma und neue Reaktordesigns erfinden, um den Traum von der Fusionsenergie wahr zu machen. Sie nutzen sie für frühzeitigere und genauere Unwetter- und Flutvorhersagen, um Medikamente zu entwerfen, Gifte zu messen, detaillierte Abläufe in und zwischen verschiedenen Gehirnregionen zu beschreiben, oder sogar, um ganz neue Materialien zu entwickeln. Wieder andere arbeiten an Künstlicher Intelligenz, um leistungsfähigere Quantencomputer zu bauen – wobei sich der Fortschritt hier wechselseitig befeuert, bessere Quantencomputer helfen wiederum, um möglicherweise kompetentere KI-Systeme zu erschaffen.
Wohin der Forschungsfortschritt konkret führt, zeigt sich etwa in Prototypen von kleinen, kostengünstigeren Ultraschallgeräten und dazugehörender, auf einem Tablet ohne Internetzugang funktionierender Software, mit deren Hilfe auch Nichtmedizinier feststellen können, in welcher Schwangerschaftswoche eine Frau ist und in welcher Haltung das heranwachsende Kind liegt. Das macht Medizin billiger – vor allem auch in Ländern, die bislang überhaupt nicht über eine solche Infrastruktur verfügen.
Wenn es um die Künstliche Intelligenz geht, richtet sich die Hoffnung indes nicht alleine auf neue wissenschaftliche Durchbrüche – sondern auch darauf, mit ihrer Hilfe mehr wirtschaftlichen Wohlstand für viele zu erreichen und damit politische und gesellschaftliche Spannungen abzubauen. „Wir brauchen einen Gamechanger, einen Erlöser“, sagt Thomas Friedman, ein bekannter Kolumnist der „New York Times“. Viele Staaten könnten grundlegende Versprechen nicht mehr ausreichend erfüllen, die sie ihren Bürgern generationenübergreifend gegeben haben und auf denen Zusammenhalt fußt. Er nennt Einkommen im Alter, öffentliche Infrastruktur und Zugang zu erschwinglicher medizinischer Versorgung. „Wissenschaftliche und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sind eng miteinander korreliert“, sagt auch Bosun Tijani, der nigerianische Minister für Kommunikation, Innovation und Digitalwirtschaft. Sein Land müsse mehr in Bildung investieren, um jungen Menschen eine beruflich attraktive Perspektive zu geben. Auch Tijani hofft auf KI und will die Kräfte in diesem Bereich bündeln. Er erzählt, dass Nigeria sogar eine KI entwickelt habe, um überhaupt alle Nigerianer zu finden, die im KI-Bereich arbeiten, und sie miteinander vernetzen zu können.
Wendepunkt in der Forschung
Deepmind-Gründer Hassabis skizziert wiederum, wie die Künstliche Intelligenz dem menschlichen Gehirn noch näher kommen könnte. „Die großen Sprachmodelle reichen nicht aus, aber sie werden ein Teil der Lösung sein“, glaubt er. KI müsse besser darin werden, ihre Umgebung wahrzunehmen, kausale Zusammenhänge zu verstehen, sie brauche so etwas wie ein Weltmodell. „Wenn du rekonstruieren kannst, wie die Welt um dich herum ist, musst du ein gewisses Verständnis davon haben, wie sie funktioniert.“ Nicht festlegen lassen möchte er sich darauf, wie lange es noch dauert, bis die KI dieses Niveau erreicht hat. Wenig Zweifel lässt er allerdings daran, er selbst könne das nicht mehr erleben – Hassabis ist im Sommer 48 Jahre alt geworden. Auf dem Weg zur sogenannten Allgemeinen Künstlichen Intelligenz werde diese Technologie aber zunächst noch viele andere spezielle Probleme lösen.
Mit welcher Wucht sich das auswirken kann, haben er und seine Mitarbeiter in den vergangenen Jahren demonstriert. Sie haben die Daten der deutlich mehr als 100.000 Proteine verwendet, die Forscher mit den gängigen Methoden mühselig über Jahrzehnte ermittelten und in einer brauchbaren Datenbank zusammentrugen, und damit ein KI-Modell namens AlphaFold angelernt. Ihr Ziel war so klar wie ambitioniert: Sie wollten aus den Aminosäureketten die korrespondierende dreidimensionale Proteinstruktur errechnen. In einer ersten Version des Modells waren ihre Ergebnisse mäßig.
Mithilfe des Forschers John Jumper, der seither für Deepmind arbeitet, verbesserten sie das Modell erheblich und unternahmen einen neuen Anlauf – diesmal mit Erfolg. Mit AlphaFold2 waren Hassabis und Jumper in der Lage, die Strukturen aller bislang bekannten ungefähr 200 Millionen Proteine zu errechnen. Sie machten die Ergebnisse öffentlich zugänglich, das Problem gilt seither als gelöst – die beiden Forscher erhielten dafür in diesem Jahr den Chemie-Nobelpreis. Nach eigenen Angaben nutzten bislang mehr als zwei Millionen Menschen aus 190 Ländern das Modell für weiterführende Forschungen. Die nächste Version AlphaFold3 kann noch komplexere Strukturen vorhersagen und soll noch hilfreicher sein, zumal für die Medizin. „Was kann besser sein, als Krankheiten zu heilen?“, fragt Hassabis.
Was möglich ist, zeigt übrigens nicht zuletzt auch die Leistung des gemeinsam mit Hassabis und Jumper ausgezeichneten Forschers David Baker: Dieser hat eine Methode erfunden, um ganz neue Proteine zu konstruieren. Was folgt aus all dem?
„Wir befinden uns in der Forschung an einem Wendepunkt durch KI“, sagt Julie Maxton, die Geschäftsführerin der Royal Society. „KI muss darum vertrauenswürdig, verlässlich und verantwortlich entwickelt und angewendet werden.“ Sie mahnt an, die Systeme zugänglich zu machen, weil Forschung reproduzierbar sein müsse. „Und wir müssen immer klarmachen, um welche Daten es genau geht, dass Privatsphäre und Datenschutz respektiert werden.“ Denn viel steht auf dem Spiel, das wissen sie alle.