Mit dem Ende dieser „Schlummertaste“ ruft Pistorius ein neues Führungsduo aus

Großbritannien und Deutschland wollen mehr Verantwortung in der Nato übernehmen und die Abschreckung gegen Russland erhöhen. Für das Verteidigungsbündnis ist das nun eigens dafür geschlossene Abkommen von großer Bedeutung. Aber auch gegenüber den USA erhofft man sich einen Vorteil.

Boris Pistorius ist hellwach. Am Mittwoch steht der deutsche Verteidigungsminister bei einer Pressekonferenz in London neben seinem britischen Amtskollegen John Healey, ihm zugewandt und konzentriert. Kurz zuvor haben die beiden das erste umfassende Verteidigungsabkommen zwischen Deutschland und Großbritannien unterzeichnet – benannt nach der ehemaligen Schifffahrtsbehörde Trinity House unweit der Themse, wo das Treffen stattfindet.

Mit seiner agilen Ausstrahlung macht Pistorius wett, was die Vorgängerregierungen aus seiner Sicht versäumt haben. Viel zu lange habe Deutschland in der europäischen Sicherheitspolitik auf die Schlummertaste gedrückt, erklärt er. Umso schneller müsse jetzt gehandelt werden.

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Das neue „Trinity-House-Abkommen“ soll diesen Aufbruch symbolisieren. Es sieht die gemeinsame Entwicklung, Produktion und Beschaffung von Rüstungsgütern sowie mehr militärische Zusammenarbeit und gemeinsame Übungen unter anderem an der Nato-Ostflanke vor. Geplant ist auch, dass deutsche Aufklärungsflugzeuge, die U-Boote aufspüren sollen, künftig in Schottland stationiert werden, um von dort aus den Nordatlantik zu überwachen. Die Vereinbarung kann außerdem als Vorstufe zu einem umfassenden deutsch-britischen Vertrag über die Verteidigungspolitik verstanden werden, der im kommenden Jahr abgeschlossen werden soll.

Damit gehen zwei wichtige europäische Militärmächte und Ukraine-Unterstützer nicht nur den nächsten Schritt zur Stärkung ihrer eigenen Verteidigungsfähigkeit – sie beanspruchen auch mehr Führung in der Nato. „Die treibende Kraft hinter dem Abkommen“, erklärt der Labourpolitiker Healey, sei der Wille, eine stärkere Rolle in der Nato zu spielen und mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen.

Für das westliche Verteidigungsbündnis ist der Vertrag zwischen zwei ihrer einflussreichsten Mitglieder von enormer Bedeutung. Nach mehr als zweieinhalb Jahren Krieg in der Ukraine sind die militärischen Reserven der Mitgliedstaaten erschöpft, während die Expansionsfantasien Wladimir Putins das Bündnis weiterhin in Atem halten.

Deutsch-britische Antwort auf Unsicherheiten

Erschwerend kommt hinzu, dass der Status der USA als Schutzmacht Europas längst keine Gewissheit mehr ist. Denn Washington konzentriert sich in seiner strategischen Ausrichtung zunehmend auf den Indopazifik. Auch die mögliche Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten in knapp zwei Wochen könnte die europäische Sicherheitsarchitektur in ihren Grundfesten erschüttern. Eine Antwort auf diese Unsicherheiten soll der deutsch-britische Aktionsplan bieten.

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Dass sich Deutschland und Großbritannien auf das gemeinsame Abkommen geeinigt haben, ist die logische Konsequenz des verteidigungspolitischen Kurses, den beide Länder in den vergangenen Jahren jeweils verfolgt haben. Seit Beginn des Ukraine-Krieges betonen die Regierungen unermüdlich, wie entscheidend die militärische Unterstützung Kiews für die Sicherheit der Nato-Ostflanke und den gesamten europäischen Kontinent sei.

Beide Staaten führen die Rangliste der größten Unterstützerländer der Ukraine im Hinblick auf die absolute Höhe der Hilfeleistungen an – nur die USA liefern mehr. Nach Angaben des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (ifw) hat die Bundesregierung bis August dieses Jahres Waffenlieferungen im Wert von 10,6 Milliarden Euro bereitgestellt, gefolgt von Großbritannien mit 9,4 Milliarden Euro. Gemessen an der Wirtschaftsleistung der Länder landen beide im oberen Mittelfeld.

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Darüber hinaus hat Deutschland, das lange Zeit nur zögerlich in die eigene Verteidigungsfähigkeit investierte, seine Anstrengungen deutlich erhöht und erfüllt in diesem Jahr erstmals das Nato-Ziel, gibt also mehr als zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigungsausgaben aus. Großbritannien übertrifft diesen Richtwert seit Jahren und liegt derzeit bei 2,2 Prozent.

Neben seiner verteidigungspolitischen Bedeutung hat der Pakt vor allem für Großbritannien auch einen symbolischen Wert. Denn mit der Unterzeichnung signalisiert Deutschland seinen europäischen Partnern, dass London nach den turbulenten Brexit-Jahren unter der konservativen Vorgängerregierung ein proeuropäischer und verlässlicher Partner ist. Dies kommt der Labour-Regierung von Premierminister Keir Starmer zugute, die einen „Neustart“ mit der EU anstrebt, unter anderem in Form eines Sicherheitspakts.

Neben den Ländern selbst profitiert vor allem die Nato von der bilateralen Partnerschaft, planen doch beide Mitgliedstaaten die Entwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern, die das Bündnis dringend benötigt. So sieht das Abkommen die Produktion von Artillerierohren durch einen Vertrag mit dem deutschen Rüstungsunternehmen Rheinmetall vor, auch Drohnen und Langstreckenraketen sollen hergestellt werden. Letztere sind besonders bedeutsam, weil sie weit in feindliches Gebiet eindringen können und damit ein großes Abschreckungspotenzial gegenüber Russland ermöglichen.

Mehr Unabhängigkeit von den USA

Bislang sind die europäischen Nato-Staaten in diesem Bereich stark von den USA abhängig. Auf dem Nato-Gipfel im Juli in Washington kündigte US-Präsident Joe Biden an, ab 2026 Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit Reichweiten über 2000 Kilometern, Flugabwehrsysteme vom Typ SM-6 und neu entwickelte Überschallwaffen in Deutschland zu stationieren. Damit soll eine Sicherheitslücke auf dem Kontinent geschlossen werden. Während Russland mit Mittelstreckenwaffen fast jedes Ziel in Europa treffen kann, verfügen die europäischen Streitkräfte derzeit nicht über entsprechende Systeme.

Genau hier könnten Großbritannien und Deutschland mit der Produktion von Langstreckenwaffen ansetzen, meint Ed Arnold, Senior Research Fellow für Europäische Sicherheit beim britischen Militär-Thinktank RUSI in London. Denn die nun von London und Berlin geplanten Langstreckenraketen sollen weiter und präziser fliegen können als bisher eingesetzte Waffensysteme. „Langfristig könnten die Raketen aus deutsch-britischer Produktion die Tomahawk-Marschflugkörper ersetzen“, sagt er WELT.

Dies wäre auch eine klare Botschaft an einen möglichen US-Präsidenten Trump. Dieser hat im Wahlkampf mehrfach angedeutet, das amerikanische Engagement in der Nato unter seiner Ägide zu reduzieren, sollte diese ihre Verteidigungsfähigkeit nicht ausbauen. Drohungen des Republikaners auf einer Wahlkampfveranstaltung im Februar, säumige Bündnispartner nicht zu schützen und Russland sogar dazu „zu ermutigen, zu tun, was es will“, hatten die Verbündeten aufgeschreckt.

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Trotz der Geschlossenheit, die die Verteidigungsminister Deutschland und Großbritannien in London demonstrierten, sind sich die Partner allerdings nicht in allen Bereichen einig. Größter Streitpunkt bleibt die Frage nach der Lieferung weitreichender Waffen an die Ukraine, um die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Verbündeten seit Monaten bittet.

Während Großbritannien bereits Storm Shadow-Marschflugkörper an Kiew übergeben hat, lehnt Berlin die Lieferung deutscher Taurus-Waffensysteme mit einer Reichweite von 500 Kilometern weiterhin ab. Bundeskanzler Olaf Scholz begründet dies mit der Gefahr einer weiteren Eskalation des Krieges und dem Risiko, Deutschland könne Kriegspartei werden. Pistorius bekräftigte diesen Standpunkt am Mittwoch in London. Amtskollege Healey verzog keine Miene.

Mandoline Rutkowski ist Korrespondentin für die Berichtsgebiete Vereinigtes Königreich und Irland. Seit 2023 berichtet sie für WELT aus London.

Source: welt.de

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