„Hey Marie, sorry, nicht cool von uns, dass wir uns so lange nicht gemeldet haben, aber besser spät als ghosten …“
Ich bin auf dem Weg nach Hause und checke die Nachrichten auf meinem Smartphone. „Wie du dir wahrscheinlich schon denken kannst, müssen wir dir leider absagen, tut uns leid.“ Vor etwa einem Monat hatte ich mich online zwei Frauen wegen eines WG-Zimmers in ihrer Kreuzberger Altbauwohnung vorgestellt, wissentlich, dass dies der Anfang einer nervenaufreibenden Suche werden könnte. Eine Wohnung in Berlin zu finden, ist bekanntlich so entspannt wie eine Fahrt mit der U-Bahn im Hochsommer, wenn plötzlich Starkregen fällt und man sich haltsuchend unter den Achselhöhlen fremder Körper an gelbe Stahlstangen klammert. Natürlich hätte ich es mir denken können. Und doch blieb ein kleiner Funken Hoffnung, dass ich genau die richtige Person für diese WG sein könnte.
Egal, wie sehr man die Wohnung, den Job, das Date oder das Stipendium überhaupt will – eine Absage kratzt am Selbstwert, stellt die eigene Wahrnehmung infrage und schafft ein Machtverhältnis. Zu Hause angekommen, erwischt es mich gleich ein zweites Mal. Als habe das Universum beschlossen, mir einen kleinen Präsentkorb mit Ablehnungen zusammenzustellen. Ich klappe meinen Laptop auf und lese: „Liebe Marie, das wird leider nichts, schickst du mir deine Rechnung für das Probelektorat?“ Kein warum, kein danke. Dabei hatte ich für das Probelektorat des Astrologieratgebers doch extra mein eigenes Horoskop gewählt, um zu demonstrieren, dass ich ein perfektionistischer Steinbock mit ausreichend Selbstironie bin. Haben mich meine sarkastischen Kommentare den Auftrag gekostet?
„Frag nach, dann kannst du aus dem Feedback fürs nächste Mal lernen“, rät eine Freundin, als ich meine Selbstzweifel bei ihr am Telefon ablade. „Keiner will mit mir wohnen, keiner will mit mir arbeiten!“, jammert mein gekränktes Ego zurück. Mir missfällt die Vorstellung, darum betteln zu müssen, dass man sich noch einmal die Zeit nimmt, mir zu erklären, warum ich versagt habe. Ich will ein Trostpflaster, keine weitere Tortur.
Der emeritierte Psychologe und Neurowissenschaftler Mark Leary von der Duke University im US-Bundesstaat North Carolina fand 2015 heraus, dass Ablehnung wortwörtlich wehtut. Jene Synapsen, die bei einer Zurückweisung aktiviert werden, sind dieselben, die im Hirn stimuliert werden, wenn wir körperliche Schmerzen empfinden. Kein Wunder also, dass ich leide. In der Hoffnung auf Linderung frage ich die Suchmaschine nach Tipps, woraufhin sie mir Artikel für einen „professionellen Umgang“ mit Absagen vorschlägt. Professionalität und Leiden gehören für mich nicht zusammen, aber ich verstehe: Wenn ich meine Würde wahren will, sollte ich potenziellen Auftraggebern mein Selbstmitleid nicht vor die Füße kotzen.
Am nächsten Morgen schreibe ich dem Verlag: „Schade, dass es nicht klappt, hier ist meine Rechnung. Viele Grüße.“ Ich halte die Nachricht kurz, freundlich und professionell. Danach geht es mir etwas besser, aber anders als die freundliche WG-Absage behalte ich diesen Korb noch eine kleine Weile im Hinterkopf. Die Enttäuschung rührt weniger daher, dass mir nun genau dieser Auftrag entzogen wurde, sondern daher, dass man sich keine Zeit genommen hat, die Enttäuschung abzufedern. Die Frauen aus der WG hatten sich gleich zweimal entschuldigt. Ich bin zwar selbst der Meinung, dass gerade Frauen sich nicht ständig und für alles entschuldigen sollten, aber besser spät als ghosten und besser spät, aber einfühlsam. Ich merke: Absagen zu erteilen, will gelernt sein, genau wie Absagen auszuhalten.
Denke ich länger darüber nach, fällt mir auf, dass gerade Menschen, die heute als besonders erfolgreich gelten, auf ihrem Lebensweg massenhaft Absagen kassieren mussten. Greta Gerwig hat 2012 nicht nur das Drehbuch zu Frances Ha, einem meiner Lieblingsfilme, geschrieben, sie spielt darin auch die wunderschön scheiternde Titelfigur, die auf einen Schlag ihre Wohnung, ihre beste Freundin und ihren Job verliert, obwohl sie so sehr versucht, optimistisch und unbeirrt durch die Straßen Brooklyns zu tanzen. Gerwig gelang damit der Durchbruch, heute ist sie eine gefeierte Regisseurin, verantwortlich unter anderem für Barbie, den weltweit umsatzstärksten Film des vergangenen Jahres. Einst war sie jedoch von sämtlichen großen Filmhochschulen abgelehnt worden.