Missbrauchsstudie aus Passau: Viel Raum zum Besten von den Bischof

Welches Gewicht soll den Aussagen eines amtierenden Bischofs in einer unabhängigen Missbrauchstudie beigemessen werden, die auch sein eigenes Wirken untersucht? Diese heikle Frage wirft die Missbrauchsstudie für das Bistum Passau auf, die am Montag von der Universität Passau veröffentlicht wurde. Denn Bischof Stefan Oster kommt darin ausführlicher zu Wort als die meisten anderen amtierenden Bischöfe in den Missbrauchsstudien ihrer Bistümer.

Die Grundlage für solche Untersuchungen sind die Akten der Bistumsverwaltungen, die oft erhebliche Lücken aufweisen. Aber selbst wenn die Fälle umfassend dokumentiert sind und die schriftliche Überlieferung annähernd vollständig ist, bilden sie nur einen Teil der Wirklichkeit ab. Für die Passauer Studie interviewten die beiden Autoren, die Passauer Historiker Marc von Knorring und Anna Karoline Matschl neben Bischof Oster 25 Betroffene und 35 weitere „Zeitzeugen“.

Dem Passauer Bischof werde „nicht nur von Betroffenen vorgehalten, die wahre Dimension von Missbrauch und dessen Folgen noch nicht realisiert zu haben, das Thema vor allem formalistisch anzugehen“, heißt es in der Passauer Studie in einem Abschnitt unter der Überschrift „Wahrnehmungen und Bewertungen: unterschiedliche Maßstäbe und Missverständnisse“. Er sei den einzelnen Betroffenen gegenüber im Gespräch und danach nicht genügend einfühlsam und zugewandt begegnet.

Außerdem habe er „kein Verständnis für die systeminhärente Machtproblematik in der Kirche“ und denke zu sehr in theologischen Kategorien. Unmittelbar im Anschluss daran ist zu lesen, „Zeitzeugen hingegen loben im Interview Osters Aufklärungswillen und bescheinigen ihm – trotz ihrer durchaus kirchenkritischen Gesamthaltung – ‚im Unterschied zu seinem Vorgänger sehr offen reagiert’ zu haben“.

Schärferes Vorgehen als unbedingt erforderlich

Zum Schluss kommt Bischof Oster selbst zu Wort. Er habe im Gespräch betont, frühzeitig „im Dienst als Priester, geistlicher Begleiter und im Freizeitbereich“ mit Berichten über Missbrauch und dessen Folgen in allen Einzelheiten und Unterschiedlichkeiten unmittelbar konfrontiert worden zu sein und ein Bewusstsein dafür entwickelt zu haben, heißt es in der Studie weiter. Den Vorwurf der emotionalen Kälte müsse er hinnehmen, er mache ihn aber ratlos, denn er versuche stets, „sich auch so gut es geht einzufühlen“. Oster habe darauf verwiesen, „institutionell so viel wie möglich zu tun“, habe aber zugleich hervorgehoben, „dass der Missbrauch für jedes Leben eine Katastrophe ist und (…) für manche Betroffene nie genug getan werden könne.“

Insgesamt füllen die Interviewaussagen von Bischof Oster in dieser Passage gut 14 Zeilen, die Kritik an seinem Umgang mit dem Thema Missbrauch knapp sieben, wobei unklar bleibt, wer außer den Betroffenen selbst diese noch geäußert hat. Ebenso offen bleibt, wer die „Zeitzeugen“ sind, die sich positiv über Oster äußern. Aber nicht nur in dem Abschnitt, in dem es um „Wahrnehmungen“ geht nehmen die Aussagen Osters großen Raum ein, auch in dem Kapitel, in dem die Studie – in erster Linie auf Grundlage der Akten – seinen Umgang mit Missbrauch rekonstruiert.

Das Gesamturteil der Autoren über Oster fällt positiv aus. Die Leitlinien der Bischofskonferenz für den Umgang mit Missbrauchsfällen seien in seiner Amtszeit „nicht nur strikt umgesetzt“ worden. Auch in den Fällen, in denen sie nicht gegriffen hätten, habe der Bischof gleichwohl Maßnahmen ergriffen, die dann vom Vatikan auch bestätigt worden seien. Im Zweifel sei das Bistum offenbar eher schärfer als milder als unbedingt erforderlich gegen Beschuldigte vorgegangen, lautet ihr Resümee. Zugleich halten die Autoren fest, dass Oster, der seit 2014 Bischof von Passau ist, insbesondere in einem Fall, den er von seinem Vorgänger übernommen hatte, gegen den Rat seines Kirchenrichters „mehrfach zögerlich in der Anwendung der Leitlinien“ gewesen sei und „viel Geduld“ mit dem Beschuldigten gehabt habe.

Eltern als Mitwisser von Missbrauch

Die Autoren der Studie haben für die Zeit von 1945 bis 2022 insgesamt 128 beschuldigte oder überführte Priester identifiziert. Das entspricht 5,3 Prozent der Gesamtpriesterzahl in diesem Zeitraum und liegt leicht über den Werten anderer Bistümer. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel über die sogenannten „Bystander“. Dieser Begriff stammt aus der englischsprachigen Holocaustforschung und bezeichnet die Gruppe von indirekt am Geschehen beteiligten Personen.

Aufgrund der guten Aktenlage in Passau haben die Autoren diesen Aspekt ausführlich behandelt. Laut ihren Recherchen waren 38 Prozent der „Bystander“ – meist als Mitwisser – in Fällen von Missbrauch und Gewalt Eltern von Opfern. Die Untersuchung ihrer Verhaltensweisen habe ergeben, „dass bis zum Jahr 2000 die Angst der Familien, Nachteile durch offizielle Beschwerden gegen Kleriker wegen Missbrauch oder Gewalt zu erleben, vorherrschend war“. Seit 2001 sei dann ein „deutlich offensiveres Verhalten“ von Eltern betroffener Kinder zu verzeichnen, jedoch seien auch die Fallzahlen deutlich zurückgegangen. In zwei Fällen fanden die Autoren Belege für eine aktive Beteiligung von Angehörigen an Missbrauchshandlungen. Die Kinder seien den Geistlichen wissentlich und willentlich zugeführt worden.

Ein weiteres Ergebnis der Studie betrifft die Reaktion der Eltern, deren Kinder missbraucht wurden. Diese seien oft mit einer Versetzung des beschuldigten Priester zufrieden gewesen. Vieles deute darauf hin, dass Eltern häufig nicht daran dachten, was der Beschuldigte womöglich in der nächsten Ortschaft tun könnte. Mit der Versetzung des Priesters sei die Angelegenheit für die Familien abgeschlossen gewesen.

Source: faz.net