Schon die Musikauswahl ist eine Ansage. Mit den rockigen Tönen von „How Legends Are Made – Wie Legenden gemacht werden“ ist das Video unterlegt, das Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) in sozialen Netzwerken von seiner jüngsten Reise zur Tagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington verbreiten ließ. In schneller Schnittabfolge eilt Klingbeil darin von einem Besprechungsraum zum nächsten, dazwischen sieht man kurz den strahlend blauen Himmel über der amerikanischen Hauptstadt und einen Polizisten mit dunkler Sonnenbrille. Partnerschaften mit anderen Ländern, Werben für den Investitionsstandort Deutschland – das Video zeigt Klingbeil als gefragten Gesprächspartner. „Die Tage haben sich wirklich gelohnt“, sagt er.
Lars Klingbeil im Zentrum der Macht: So hatte der Ko-Vorsitzende der SPD sich das vorgestellt, als er sich nach der Bundestagswahl trotz der hohen Verluste für seine Partei sowohl das Amt des Finanzministers als auch das des Vizekanzlers sicherte. Von Anfang an machte Klingbeil deutlich, dass er sich in seinem Tun nicht auf den Haushalt und die Steuerpolitik beschränken will. „Es ist mein Anspruch, nicht nur Finanzminister, sondern auch Investitionsminister dieses Landes zu sein“, sagte er am Tag seines Amtsantritts.
Was das konkret bedeutet, zeigt sich jetzt. Ob es um die Sanierung von Straßen und Brücken, bessere Kitas und Schulen, die Digitalisierung oder die Zukunft der Auto- und Stahlindustrie in Deutschland geht – Klingbeil mischt überall mit. Mit dem 500 Milliarden Euro großen Schuldentopf zur Modernisierung der Infrastruktur hat er so viel Geld zur Verfügung wie kein Finanzminister vor ihm. Er nutzt das als Vehikel, um seinen Kabinettskollegen in die Parade zu fahren. Vor allem zwei Kabinettsmitglieder der CDU bekommen den Machtanspruch des Vizekanzlers zu spüren: Verkehrsminister Patrick Schnieder und Wirtschaftsministerin Katherina Reiche.
Projekte für 455 Millarden Euro auf der Wunschliste
Die Konkurrenz zu Schnieder ergibt sich schon aus der Natur der Sache. Der nüchterne Mann aus der Eifel verwaltet den größten Investitionsetat des Landes und hat zugleich den größten Nachholbedarf. Bröckelnde Brücken, ein veraltetes Schienennetz, Schlaglöcher in den Bundesstraßen – der Investitionsstau der vergangenen Jahrzehnte ist enorm. Hinzu kommt eine nicht enden wollende Wunschliste im Bundesverkehrswegeplan. Sie umfasst 57 Schienenprojekte, 1813 Straßenbauprojekte und 35 Vorhaben für die Wasserstraße. Kostenpunkt: 455 Milliarden Euro, wie dem aktuellen Bericht des Verkehrsministeriums zum „Gesamtmittelbedarf“ der Verkehrsträger zu entnehmen ist.
In dieser Legislaturperiode kann Schnieder die Rekordsumme von 169 Milliarden Euro verbauen. Ein großer Anteil kommt aus dem Sondervermögen. Um zu überwachen, wofür das Geld ausgegeben wird, hat Klingbeil in seinem Ministerium eigens einen Beirat eingerichtet. Der Verkehrsetat, über den Schnieder allein verfügt, schrumpft dauerhaft um mehr als zehn Milliarden Euro im Jahr.
Kürzlich kam es zum Eklat. Als Schnieder öffentlich eine Lücke von 15 Milliarden Euro benannte, die für baureife Autobahnprojekte sowie den Erhalt der Bundesstraßen fehlten, reagierte Klingbeil mit einem geharnischten Brief. Der „sehr geehrte Herr Kollege“ möge doch erst mal dafür sorgen, dass das ganze Geld auch tatsächlich verbaut werde. Und Schnieder möge ihn informieren – über ausgewählte Projekte und den Stand des Mittelabflusses. Wenig später ließ Klingbeil weitere neun Kabinettsmitglieder per Brief wissen: Selbst 500 Milliarden Euro sind endlich. Deshalb wird es einen geben, der über die Wirtschaftlichkeit wacht und darüber, dass das Geld auch bei den „Bürgern vor Ort“ ankommt: sein Haus, das Bundesfinanzministerium.
Klingbeil kündigt subventionierten Industriestrompreis an
Während sich beim Verkehr die Verteilungskämpfe gerade erst entfalten, schlug Klingbeil für den von Kanzler Friedrich Merz (CDU) für den 6. November anberaumten „Stahlgipfel“ frühzeitig seine Pflöcke ein. Bereits Anfang Oktober lud er die Betriebsräte der Unternehmen zur Vorbesprechung ins Finanzministerium. Vor Journalisten skizzierte Klingbeil, wie er die Arbeitsplätze in der krisengeschüttelten Branche halten will. Unter dem Schlagwort „europäischer Patriotismus“ forderte er, dass die Europäer mehr Stahl aus eigener Herstellung nutzen und die Importe aus China begrenzen sollten.
Zudem kündigte er einen subventionierten Industriestrompreis an. Mit ihm auf dem Podium stand neben Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) auch die für Industriepolitik eigentlich zuständige Wirtschaftsministerin. Dass der wissenschaftliche Beraterkreis von Reiche einige Tage später empfahl, den Strukturwandel in der Industrie zuzulassen, sich stärker auf zukunftsträchtige Wirtschaftszweige zu konzentrieren, fand in der Bundesregierung kaum Widerhall. Klingbeil hatte den Ton gesetzt.
In den Koalitionsverhandlungen hatte der SPD-Politiker schon erfolgreich durchgesetzt, dass die Zuständigkeit für die Transformationspolitik aus dem Wirtschaftsministerium in sein Haus wanderte. Die entsprechenden Stellen waren die sogenannten Vizekanzlerstellen, die sich einst Habeck gesichert hatte. Nun verschaffen sie Klingbeil Macht.
Söder ist nicht begeistert
Das Bundeskanzleramt stellt sich Klingbeils Wirbeln in der Wirtschaftspolitik bislang nicht in den Weg. Widerstand kommt aus den Bundesländern. Als größter Widersacher dürfte sich der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erweisen. Von 2009 bis 2021 galt die CSU mit ihren Verkehrsministern als Alleinherrscherin über den Verkehrsetat. Diese Rolle ist Söder nicht bereit, so einfach aus den Händen zu geben. In der langen Nacht des Koalitionsausschusses am 8. Oktober standen deshalb auf der Habenseite des Verkehrsministers zusätzlich drei Milliarden Euro für Fernstraßenprojekte und – noch wichtiger – die verbindliche Zusicherung, alle baureifen Projekte auch tatsächlich umsetzen.
„Kein Projekt bleibt liegen“, betonte Söder anschließend, und ergänzte: „Für Bayern ist das total wichtig. Da gab es große Verunsicherung.“ Die Leidtragende des nächtlichen Geschachers war Wirtschaftsministerin Reiche, deren Budget für die Förderung neuer Chipfabriken um die besagten drei Milliarden Euro schrumpft. Doch die Sache ist noch nicht zu Ende. Die nördlichen Bundesländer, bis auf Schleswig-Holstein allesamt SPD-regiert, haben in einem Brief an Kanzler Merz klargestellt, wohin ihrer Meinung nach das Geld fließen soll: In die Verlängerung der Küstenautobahn A 20, weit weg von den bayerischen Bergen.
Mit dem Deutschlandfonds zeichnet sich auf einem anderen Themengebiet der nächste Machtkampf ab. Formal sind Klingbeil und Reiche gleichermaßen zuständig für den Fonds, der gemäß Koalitionsvertrag „die Kraft der privaten Finanzmärkte mit dem langfristig strategischen Vorgehen des Investors Staat verbinden“ soll. Zehn Milliarden Euro will der Bund Unternehmen mit Wachstumspotential zur Verfügung stellen, mit privatem Kapital sollen daraus mindestens 100 Milliarden Euro werden. In den Koalitionsvertrag verhandelt hat den Fonds die SPD. Die Details werden derzeit ausgearbeitet. Es darf gewettet werden, wer das Gesicht des neuen Fonds wird: Klingbeil oder Reiche? Die Erfahrung der vergangenen Monate lehrt: Klingbeil sucht die öffentliche Bühne, Reiche meidet sie.
Der Finanzminister merkt inzwischen allerdings, dass Social-Media-Videos und „Die Bagger müssen rollen“-Reden nicht reichen, um sich den Wählern als Modernisierer zu präsentieren. Die Stimmung im Land hat sich nach Umfragen weiter verschlechtert. Die Wachstumsaussichten für 2026 sind im internationalen Vergleich verhalten: 1,3 Prozent schätzt die Bundesregierung, nur 0,9 Prozent der IWF. Gemessen an der Höhe der Neuverschuldung ist das kein großer Durchbruch. Der selbst ernannte Investitionsminister muss mehr liefern, wenn er 2029 eine Chance haben will, für die SPD das Kanzleramt zu erobern.